Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Erziehungspolitik von Partei und Regierung möglichst viel von der freiheitlichen Grundhaltung der Schule zu bewahren. Der stellvertretende Direktor dagegen, gerade erst eingesetzt, gehörte zu denen mit stets sichtbarem Parteiabzeichen. Andere jüngere Lehrer waren wohl ebenfalls NSDAP -Mitglieder oder zumindest unkritisch gegenüber den Parolen von Partei und Regierung. Die Zeichenlehrerin etwa warnte mich vor »entarteter Kunst« – wegen meiner Aquarelle, für die ich von den Malerinnen in Marienau gelobt worden war. Zwei ältere Kameraden, die sich gern ein wenig als Zensoren aufspielten, schrieben als Urteil der Mitschüler: »Gerd liest zu viel Rilke, Hofmannsthal und Hölderlin. Er sollte mehr moderne Dichtung, etwa von Hans Baumann und Hanns Johst, lesen.« Das ärgerte mich, denn von Baumann kannte ich hauptsächlich Nazi-Gedichte wie das berüchtigte »Es zittern die morschen Knochen«, nicht seine mehr lyrische Produktion, an die die beiden Mitschüler dachten. Eigentlich waren die zwei ganz anständige, gebildete Jungs, die sich mit anderen zu einer kleinen Jazzband zusammengefunden hatten und eine Musik machten, für die sie, wie ich wusste, in Hamburg eingesperrt worden wären. Auch der Sportlehrer, der stets den Geist der Hitlerjugend pries, gefiel mir trotz seiner Parolen, weil er hilfsbereit und kameradschaftlich im Umgang war.
Es war eine Welt von Widersprüchen und ein Leben mit gemischten Gefühlen. Ich spielte gern Jäger oder Scharfschütze und schoss mit dem Luftgewehr aus meinem Zimmerfenster in die Bäume, aber dann schrieb ich eines Tages einen erschütterten Brief an eine der jungen Erzieherinnen in Marienau: Ich hatte eine Meise getroffen, unmittelbar vor meinem Fenster, zuerst stolz darauf, sie im Flug erwischt zu haben, und dann bestürzt über diesen Mord. In ihrem Antwortbrief lobte die Frau meine Gefühle und tröstete mich ein wenig. Oft führte ich nun lange Gespräche mit einer Erzieherin, die nur sechs oder sieben Jahre älter war als ich, eine gebildete Frau aus einer Verleger-Familie. Ihr Abstand zu den politischen Parolen des Dritten Reichs war unverkennbar. Aber dann erstaunte sie mich, als sie mir das Buch Der Wanderer zwischen beiden Welten von Walter Flex schenkte, geschrieben im Ersten Weltkrieg. Was der Autor da als Kriegserlebnis in feinsinniger Sprache schilderte, schien mir in seinem deutschnationalen Pathos erschreckend, da doch die Nationalsozialisten inzwischen einen ganz anderen Krieg führten. Die Zeiten waren verwirrend.
Bereits nach einem Dreivierteljahr ging mein Aufenthalt in Schondorf zu Ende. Unsere ganze Klasse wurde geschlossen. Meine Mitschüler wurden zur Heimat-Flak eingezogen und, gelegentlich mit etwas Schulunterricht, an Flugabwehrgeschützen bei Bahnhöfen oder kriegswichtigen Fabriken stationiert. Anstelle erwachsener Soldaten sollten sie nun die Verteidigung gegen die immer stärker werdenden Luftangriffe der Engländer und Amerikaner übernehmen. Mir schlug Direktor Reisinger einen anderen Posten vor. Ich könne doch gut mit jüngeren Schülern umgehen, meinte er, und solle mir deshalb überlegen, die Betreuung einer Schulklasse aus dem Ruhrgebiet zu übernehmen, die nach den Bombenangriffen auf ihre Heimat Schutz und Unterkunft in Bayern gefunden habe. Mir war das zwar nicht ganz geheuer, aber ich ließ mich überzeugen. Zwei Wochen später prüften mich zwei HJ -Führer und ein BDM -Mädchen – alle nicht sehr zackig, eher ein bisschen schluderig – und wiesen mich in die »Führungsaufgaben« ein. Die Schulklasse sei in dem Ort Burghausen an der Salzach gemeinsam mit ihrem Lehrer und einem Hitlerjugendführer untergebracht, und ich sollte Lagermannschaftsführer werden. Dass ich keinen Rang in der Hitlerjugend hätte, sei egal.
So einfach war die Aufgabe als Lagermannschaftsführer in Burghausen dann aber doch nicht. Mit den Schülern aus dem Ruhrgebiet kam ich zwar ganz gut aus, besonders weil ich mich ab und zu in ihre Prügeleien mit den Jungs aus der Kleinstadt einmischte, doch mit den beiden Erwachsenen wurde ich nicht warm. Mein Stellvertreter hatte den HJ -Rang eines Scharführers – nicht gerade hoch, bloß die zweitniedrigste Stufe –, aber es verbitterte ihn, dass ich sein Vorgesetzter geworden war und somit einer ohne Dienstrang die geflochtene weiße Kordel des Lagermannschaftsführers tragen durfte. Sein Missfallen teilte er mit dem Lehrer aus Gladbeck, der ein Anhänger Hitlers und der Naturheilkunde war. Zum Ärger der
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