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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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Sherlock Holmes vor, voller Bewunderung für diese englische Romanfigur. Einmal warnte er einen Klassenkameraden und mich, wir sollten den Mund halten, weil wir sonst die Existenz der ganzen Schule gefährdeten. Niemand außer uns rede über die Verhaftung und Hinrichtung der Studenten der Weißen Rose. Die Schwester von Christoph Probst war mit dem Direktor unserer Schule verheiratet. Probst und seinen Freund Alexander Schmorell hatten wir bei ihren kurzen Besuchen in der Schule vor allem als flotte Reiter und eindrucksvolle Kerle bewundert. Nun waren sie wegen ihrer Aufforderung zum Widerstand verhaftet und zum Tode verurteilt worden. Die Einzigen, die unter den Schülern davon gehört hatten und darüber sprachen, waren mein Freund und ich. Wir hatten es von den beiden Erzieherinnen erfahren und versprochen, nichts davon weiterzuerzählen. Aber für völlige Verschwiegenheit waren wir zu aufgeregt. »Wenn es rauskommt, dass bei uns darüber geredet wird, dann kann es passieren, dass die Schule geschlossen wird. Es ist schwer genug, sie gegen den Druck der Behörden offen zu halten«, ermahnte uns daher der Englischlehrer, der offensichtlich doch kein lupenreiner Nazi war.
    Ein älterer Lehrer, der viel über die Edda und die nordische Lebenskultur erzählte – das lag ja ganz auf der Nazilinie –, verschwand eines Tages und endete, wie wir später erfuhren, als Homosexueller im KZ . Seine Nordland-Begeisterung stammte aus der Zeit vor Hitlers Machtübernahme, aus einem esoterischen Zweig der Jugendbewegung. Auch bei anderen, jüngeren Lehrern konnten wir die jeweilige Gesinnung nicht klar ausmachen: Ein Musiklehrer, ein feinsinniger Komponist romantischer Lieder, begeisterte sich für das Vaterland und schien auf idealistische Weise nahe an der NS -Gesinnung zu sein. Er starb als Soldat im Russlandfeldzug. Erst danach erfuhr ich, dass er sich unter dem Eindruck der Gräuel des Kriegs und der Hitlerherrschaft der Bekennenden Kirche angeschlossen hatte, der einzigen protestantisch-kirchlichen Form des Widerstands gegen die NS -Ideologie.
    Ich selbst hatte, als ich ungefähr vierzehn war, das Vertrauen zum Pastor unserer Kirche wegen seiner unkritischen Haltung zum Nationalsozialismus verloren und beschlossen, mich nicht konfirmieren zu lassen. Atheismus kam mir allerdings auch sehr fremd vor. Der Deutschlehrer empfahl mir, in der Bibliothek die Bücher über Gottgläubigkeit zu lesen, eine Art Ersatzreligion mit vielen nordischen Göttern und pseudoreligiösen Versatzstücken. Mir erschien das wie eine leere Geste, aber endgültig abgeschreckt wurde ich durch ein »Gottesbekenntnis«, von dem mir bis heute ein Satz im Gedächtnis geblieben ist: »Dass das Ross rennt, ist Gott.« Dieses künstlich nordische Pathos ging mir unmittelbar auf den Geist, und auf den Rat der beiden Erzieherinnen hin ließ ich mich am Ende doch konfirmieren.
    Dass man nicht alles offen sagen musste, um auszusprechen, was man wusste, war mir im Herbst 1940 aufgefallen, als der Lateinlehrer uns den Umgang mit Büchern in der Bibliothek erklärte. Ein Buch hielt er hoch: Finnlands Jugend bricht Russlands Ketten von Klaus Mehnert. »Das Buch ist im Augenblick nicht so geeignet und gehört eigentlich gesperrt«, sagte er, »aber ihr könnt es ruhig einmal lesen, bald kommt es wieder.« Das Buch blieb tatsächlich während der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes offiziell gesperrt – bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion, den der Lehrer allem Anschein nach vorausgeahnt hatte. Als Zwölfjähriger wusste ich nichts von den politischen Zusammenhängen, mir erschien es aber nicht recht geheuer, dass er so offensichtlich eine doppelte Moral empfahl. Darüber sprach ich dann, als im Sommer 1941 der Russlandkrieg begann, noch einmal mit einem Freund, der ein Jahr älter war als ich und der Einzige, mit dem ich solche Gespräche führen konnte. Er war der Sohn eines hohen Marineoffiziers, und mir fiel auf, dass er sich weigerte, den Völkischen Beobachter , das Parteiorgan der NSDAP , zu lesen, und sich stattdessen in der Deutschen Allgemeinen Zeitung informierte – zwar alles andere als ein Organ des Widerstands, aber weniger von knallharter Propaganda geprägt.
    Im Sommer 1942 saß ich in der Bibliothek, als ein älterer Schüler hereinkam. Er nahm den Völkischen Beobachter in die Hand, las die Schlagzeile und haute die Zeitung mit der Bemerkung auf den Tisch: »Ein Bluthund weniger!« Auf der Titelseite hatte er die Nachricht von der

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