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besten, ich würge meine Geschichte schon ab, ehe ich mit dem Erzählen beginne, denn dann kann ich sie sezieren und begreifen. Das Thema dieser Geschichte lautet: »Was wären Sie lieber: klug oder glücklich?«
Auch diese Geschichte ist ein geistiger Verführer, denn sie stellt einen Menschen in den Mittel-punkt, der die Klugheit dem Glück vorzieht. Es sei denn, ich versetze dem Bleistift in meiner Nase einen Stoß: Dann ist es eine Geschichte über jemanden, dem Glück und Unglück mehr bedeuten als Klugheit. Es ist ein moralisches Lehrstück, und gleich wird der wichtigste Protagonist die Bühne betreten. Da er lediglich als Projektionsfläche für das Thema dient, habe ich ihn nur grob skizziert.
Hier ist er also.
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Art Berry war zum Streiten geboren.
Es gibt geborene Mörder. Zum Töten erzogen, haben sie Gerissenheit und Schnelligkeit schon mit der Muttermilch eingesaugt. Gnadenlos und unaufhaltsam gehen sie ihren Weg – Stoff für Legenden. Natürlich gibt es auch geborene Balleri-nen, süße Mädchen, deren Eltern sie drillen und Härten unterwerfen, die genauso schlimm sind wie das Gift und die Stolperdrähte, mit denen die künftigen Mörder aufwachsen. Andere Kinder sind wie geschaffen dafür, später als Ärzte oder Juristen zu praktizieren oder ihrem Land zu dienen und in der edlen Tradition ihrer Ahnen den Hel-dentod zu sterben. Außerdem gibt es diejenigen, die dazu geboren sind, später einmal auf der Büh-ne zu stehen, bei Pferderennen den Rasen zu durchpflügen oder auf den Pisten qualmende Gummispuren zu hinterlassen.
Arts früheste Erinnerung: ein Traum. Er sitzt im Wartezimmer einer der unzähligen Ärzte fest, die ihn in seiner Kindheit behandelt haben. Zwar ist er höchstens drei, aber seine Aufnahmefähigkeit ist bereits so ausgeprägt, wie sie es für den Rest 10
seines Lebens bleiben wird. Und in seinem Traum
– der sich bald in einen Alptraum verwandelt – ist ihm schrecklich langweilig.
Die einzige Dekoration im Wartezimmer ist eine leere Trommel, die früher einmal Bauklötze enthielt. Oben drauf klebt eine bunte Abbildung der Klötzchen, die so aussehen, als könnte man viel Spaß damit haben, hätte jemand sie nicht alle verbummelt.
Unweit der Trommel sitzt ein Trio älterer Kinder – unendlich faszinierend für Art. Sie beraten sich kurz, dann stellen sie irgendetwas mit der Trommel an, und sie platzt auf, dehnt sich in die dritte Dimension und verwandelt sich in einen Stapel Bauklötze.
Aha!, denkt Art beim Aufwachen. Das hier ist bestimmt ein weiteres Teilchen des geheimen Wissens, über das ältere Leute verfügen, jener seltsamen Magie, die sie befähigt, Autos und Aufzüge zu bedienen oder Schnürsenkel zu binden.
Das nächste Jahr über wartet Art geduldig darauf, dass ihm ein Erwachsener erklärt, wie der Trick funktioniert, eine bunte Abbildung in einen Stapel bunter Bauklötze zu verwandeln, doch niemand zeigt es ihm. Viele andere Rätsel hat er inzwischen entschlüsselt, doch deren triviale Lösun-gen haben ihn von Mal zu Mal mehr enttäuscht.
Selbst das Lenken eines Flugzeugs stellt sich als recht einfach heraus, als die nette Stewardess ihn 11
auf dem Flug nach New York ein Weilchen ins Cockpit lässt.
Folglich schwand Arts Ehrfurcht vor dem kom-plexen Wissen der Erwachsenen. Im Alter von fünf Jahren kam er aus ständigen Tobsuchtsanfällen gar nicht mehr heraus, brüllte jeder Regel der Welt ein furchtloses Nein entgegen, stellte den Zweck und die moralische Begründung aller Vorschriften so lange in Frage, bis die frustrierten, genervten Erwachsenen die Überzeugungsarbeit schließlich aufgaben und ihm eine Ohrfeige verpassten oder ihm erklärten, es sei nun mal so, Punktum.
Er war sechs, als er seine Großmutter Ostern in die Kirche begleitete. Zu diesem Anlass hatten seine Eltern ihn in einen kratzigen Anzug und unbe-queme Schuhe gesteckt. Der Besuch artete in einen heiligen Krieg aus, in dessen Verlauf die Ge-meindemitglieder und der Priester in wechselnder Besetzung mit Art stritten.
Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen.
»Was schert es Gott, ob wir unsere Hüte abnehmen, Oma?« Aber die neugierigen Damen auf den benachbarten Kirchenbänken konnten es nicht dabei belassen, einfach nur zuzuhören. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Streitpunkt in der Kirche und drang schließlich auch bis zur Kanzel vor. Der Priester beschloss, die ganze Diskussion durch einige philosophische Wortspiele von Descartes abzuwürgen, an die
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