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eine Latina, die sich auf ein Sommerbett, eine komfortable Loungeliege mit Baldachin, setzte, sich hinter ihrem Rücken abstützte und ihr Gesicht in die Sonne hielt. Unweigerlich musste Lucille an ihr Bett daheim in Boston denken – eine Matratze auf dem Fußboden.
Sie betrachtete die Bartheke als Grenzlinie. Aus einer Laune heraus stellte sie das Glas ins Regal und legte das Tuch weg. Schmunzelnd trat sie an den Durchgang.
Auf dieser Seite des Tresens gibt es nur Arbeit, dachte sie und machte einen Schritt nach vorn zu den Barhockern, und auf dieser beginnt der Spaß.
Zumindest für die Urlauber. Sie selbst kam nur dahinter hervor, um Gläser von den Tischen neben den Wellnessliegen abzuräumen. Die Strandbar, in der Lucille den Sommer über jobbte, befand sich in unmittelbarer Nähe der Luxushotels, die neu im Süden Acapulcos gebaut worden waren. Die Bezeichnung Acapulco diamante beschrieb nicht nur das Viertel, sondern auch deren Gäste treffend. Tag und Nacht floss der Champagner in Strömen, und Lucille musste aufpassen, nicht allein vom Zuschauen betrunken zu werden. Es wäre ihr im Traum nicht eingefallen, bei dreißig Grad Alkohol zu trinken. Aber was wusste sie schon von Genuss? Für sie stellte jedes Sandwich, das sie sich von ihrem kargen Lohn leistete, eine Schlemmerei dar.
Neid und Frust regten sich in ihr, doch sie kämpfte die giftigen Gefühle nieder, indem sie sich einredete, dass es okay war. Immerhin lebte sie das Leben, das sie leben wollte. Sie war unabhängig und »erfolgreich« – wenn auch nicht im Sinne von »vermögend« wie die Gäste, die für eine Übernachtung in den hiesigen Hotels mehr zahlten, als Lucille monatlich in Kassandras Kitchen in Boston verdiente. Aber man konnte es wahrlich als erfolgreich bezeichnen, wenn man sein Studium abschloss, obwohl man genauso viele Stunden als Kellnerin in einer Bar verbracht hatte wie im Hörsaal!
Als sich ein Mann neben die Latina setzte, verzerrten sich deren Botoxlippen zu einem lasziven Lächeln, das Lucille unweigerlich an den Joker aus Batman denken ließ. Die rassige Schönheit würde ihren nächsten Champagner bestimmt nicht selbst bezahlen. Lucille dagegen war auf niemanden angewiesen, niemandem etwas schuldig und kroch niemandem ins Mokkastübchen.
Grinsend lehnte sie sich gegen die Theke. Mokkastube, diesen Begriff hatte ihr Alfie beigebracht. Sie vermisste den bärtigen Riesen, der mit seinen tellergroßen Händen die besten Kuchen in ganz Boston buk. Er war zu ihrer Ersatzfamilie geworden, seitdem sie alle Brücken hinter sich abgerissen hatte. Unwillkürlich zog sie ihren Rocksaum nach unten, da Erinnerungen in ihr Gestalt annahmen wie schwarzer Nebel, der sich zu einer scheußlichen Fratze verdichtete.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
Lucille schreckte aus ihren Gedanken hoch und drehte sich rasch zu dem Mann um, der sich gerade auf einem der Barhocker niederließ. Hatte er etwas gesehen? Als er auf ihre Beine zeigte, setzte ihr Herz einen Schlag aus.
»Wieso tragen Sie einen Rock?«, fragte er mit einem auffälligen Vibrato, das seine Stimme einzigartig machte. Er schaute einer Kellnerin nach, die sich mit einem Tablett an Lucille vorbeidrängte und zu den Loungeliegen ging. »Die Hintern der anderen Angestellten dieser Bar stecken in Hotpants.«
Was sollte sie darauf antworten? Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede, aber es wollte ihr keine einfallen. Religiöse Gründe? Für dieses Argument war der Rock vermutlich nicht lang genug, er bedeckte nicht einmal ihre Knie. Sie wollte auch nicht als verklemmt gelten, indem sie log, dass die Hosen, die kaum die Pohälften der Servicekräfte bedeckten, ihr zu sexy waren. Der Fremde würde sich bestimmt die verrücktesten Vorstellungen machen, wenn sie die Wahrheit sagte, nämlich dass sie etwas verdecken musste. »Private Gründe.«
»Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Entschuldigend lächelte der Fremde und studierte die Cocktailkarte.
Das gab Lucille, die hinter den Tresen trat, als würde sie Schutz suchen, die Möglichkeit, ihn zu mustern. Obwohl sie ihn um die fünfzig schätzte, leuchteten seine kurzen Haare schlohweiß, als wären sie durch einen krankhaften Pigmentverlust ausgebleicht. Ein Albino schien er jedenfalls nicht zu sein, denn seine Augen waren von einem trüben Grau und sein Teint so braun, dass er entweder schon seit einem halben Jahr in Acapulco weilte oder sich am Morgen eine frische Bräunungsdusche gegönnt hatte. Durch sein
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