Vaclav und Lena
Überschrift
Zeitplan
erledigen muss, ist die Kostümprobe.
Vaclav zieht folgendes Kostüm an:
|127| ein David-Copperfield- T-Shirt aus der David-Copperfield-Aufführung im Madison Square Garden
einen alten Blazer, der zwar nicht mehr passt, in den er sich aber hineinquetschen kann und der mit Glitter und Textilfarben von Puffy-Paint verschönert ist eine normale schwarze Hose
Schuhe mit Aluminiumfolie oben drauf, damit sie wie silberne Schuhe aussehen
undurchsichtige weiße Arzthandschuhe aus der Firma, wo seine Mutter arbeitet, um die weißen Handschuhe des Zauberers nachzuahmen
Und, noch zu besorgen: der Zylinder des Zauberers
Vaclav hat vor, sich den Zylinder aus dem Material zu basteln, das er beim Herumstöbern gefunden hat, darunter Hemdenkartons aus einem Kaufhaus, Isolierband und schwarze Farbe, die er aus der Schule mitgenommen hat.
Vaclav hofft, dass Lena sich zu Hause gerade heimlich und zufrieden den goldenen Fransenbikini der Heather Holliday zusammennäht.
|128| Die Assistentin bleibt verschwunden
Rasia betritt das Haus. Sie ist mit Einkaufstüten aus dem Lebensmittelgeschäft beladen und trägt auch noch ihre schwere Handtasche, und sie muss pinkeln. Direkt im Eingang lässt sie alles auf den Boden fallen, reißt sich den Mantel vom Leib und hastet zum Badezimmer. Mit jedem Tag fühlt sie, wie sie älter wird, und jeden Tag wird sie davon überrascht, dass Dinge, die früher dicht hielten, das nun nicht mehr tun. Auf dem Weg ins Bad bemerkt sie, dass Vaclavs Tür geschlossen ist. Während sie pinkelt, beschließt sie, das Essen zum Aufwärmen auf den Herd zu stellen, dann in Vaclavs Zimmer zu gehen und was immer dort vor sich geht zu unterbrechen. Sie glaubt nicht, dass Vaclav und Lena unbedingt Böses anstellen, aber sie weiß, dass sie etwas heimlich tun, und Rasia glaubt, dass aus Heimlichem Böses werden kann.
Zuerst das Abendessen. Rasia verfrachtet ihre Einkaufstüten in die Küche und nimmt eine schwere, verschmierte Tupperdose aus dem Eisschrank. Sie lässt heißes Wasser über die Vorratsdose fließen, bis der gefrorene Borschtsch-Block sich vom Plastik löst, und dann schüttelt sie ihn so lange, bis er in den Topf auf dem Herd gleitet und laut auf dem Topfboden aufschlägt. Während der Eisblock im Topf zu schmelzen anfängt, sich dabei langsam um sich selbst dreht und Wassertropfen dampfend am heißen Metall zerplatzen, beschließt sie, an Vaclavs Tür anzuklopfen und sich zu erkundigen, ob Lena zum Abendessen bleibt. Dann wird sie darauf bestehen, dass die beiden ihr beim Wegräumen der Lebensmittel helfen. Dieser Plan wird Vaclav |129| und Lena aus Vaclavs Zimmer locken und weg von dem, womit sie gerade beschäftigt sind, und außerdem werden sie ihr beim Wegräumen helfen, und das ist eine Erleichterung, denn sie ist erschöpft. Es ist eine Erschöpfung, die sie im Nacken und im Magen, ja sogar bis ins Mark spürt.
Während Rasia vor der verschlossenen Tür ihres Sohnes steht, hört sie schwache Stimmen im perfekten Sprechrhythmus aus leiser Frage und Antwort, seine Stimme hoch und kratzig und Lenas Stimme mit ihrem tiefen, russisch tönenden Timbre. Ohne anzuklopfen, öffnet Rasia die Zimmertür und ist sehr überrascht von dem, was sie sieht.
Vaclav kniet auf dem Boden. Er ist völlig vertieft in sein Vorhaben und umgeben von Isolierbandschnipseln und Kartonteilen. Er bemerkt nicht, dass seine Mutter ins Zimmer getreten ist, und redet, sein Gespräch mit einer imaginären Lena weiterführend, mit sich selbst. Rasia ist so überzeugt, draußen vor dem Zimmer Lenas Stimme gehört zu haben, dass sie einen Moment braucht, um völlig zu begreifen, dass er beide Rollen spielt.
»Wo ist Lena«, fragt sie und bricht die gebannte Aufmerksamkeit ihres Sohnes. Vaclav schaut erschrocken hoch und versucht das geheime Projekt, an dem er arbeitet, hinter seinem Rücken zu verbergen. Er fragt sich, ob seine Mutter gehört hat, wie er die Zaubervorführung mit der unsichtbaren Lena geprobt hat.
»Sie ist vielleicht krank«, sagt Vaclav.
»War sie in der Schule?«
»Nein.«
»Nein?«, fragt Rasia.
»Wahrscheinlich ist sie krank.«
|130| »Wahrscheinlich ist sie krank«, wiederholt Rasia und denkt einen Augenblick nach. »Ich schaue bei ihr zu Hause nach, wie es ihr geht. Ich bin gleich zurück«, sagt sie, schnappt sich ihre Handtasche und eilt aus der Eingangstür, ohne sich den Mantel anzuziehen.
Vaclav ist erleichtert, dass seine Mutter nachschaut, wie es Lena geht.
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