Vaclav und Lena

Doch als sie sich im Bett aufsetzt, ist alles still. Schnell verlässt sie das Schlafzimmer und läuft durch die Wohnung. Vaclav ist weder in der Küche noch im Wohnzimmer. Sie schaut im Bad nach, wobei sie den Duschvorhang beiseitezieht, und schließlich in Vaclavs Zimmer. Sie sieht im Schrank und unter seinem Bett nach, aber er ist fort.
    Rasia weiß, dass ihr Sohn häufig Geheimnisse vor ihr gehabt hat, aber dass er sie nur ein einziges Mal angelogen hat, und sie denkt jetzt über dieses eine Mal nach, und dann weiß sie genau, wohin er gegangen ist.
    |134| Ladies und Gentlemen
    Als Rasia eine Eintrittskarte für die berühmte
Coney Island Sideshow
kauft, ist sie überrascht, wie vertraut ihr der kleine rote Kontrollabschnitt ist, der ihr, obwohl sie sieht, dass der Mann ihn von der großen Rolle Hunderter identischer Eintrittskarten abreißt, wie etwas Persönliches vorkommt. Sie erinnert sich an den ersten Tag mit Lena, als sie nach Coney Island fuhren, jenen Tag, an dem sie sofort begriff, dass ihr Sohn sie angelogen hatte, jenen Tag, als Lena der wichtigste Mensch in seinem Leben wurde. Sie erinnert sich, wie sie an jenem Abend vor der Waschmaschine seine kleinen Hosentaschen durchsucht und die roten Kontrollabschnitte entdeckt hat, und sie erinnert sich, was darauf geschrieben stand. Sie erinnert sich an das flaue Gefühl im Magen, als sie, nachdem er ihr erzählt hatte, dass sie Achterbahn gefahren seien, die zwei Eintrittskarten für die
Sideshow
fand. Die
Sideshow
!
    Und während sie jetzt durch den dunklen Gang und die schwarze Tür in das
Sideshow Theater
hineingeht, hofft sie, dass er da ist, und zugleich, dass er nicht da ist, und sie versucht, sich Mut zu machen für das Schreckliche, das sie ihm sagen muss.
    |135| Heather Holliday
    Drinnen im
Sideshow Theater
sitzt nur ein einziger Zuschauer, der Jungzauberer. Er trägt seinen schwarzen Zylinder aus Isolierband und Pappe, seine Turnschuhe sind von Silberpapier umhüllt und seine Hände in den weißen Zauberer-Handschuhen hat er artig auf dem Schoß gefaltet.
    Als er seine Mutter eintreten sieht, ist er überrascht und verwirrt, wie sie ihn hier hat aufspüren können, dann bekommt er Angst, dass er nun Ärger kriegt, aber vor allem ist er erleichtert. Es war schlimm, richtig unheimlich für ihn, allein in dem dunklen Theater zu sitzen und zu wissen, dass Lena etwas zugestoßen ist, und zwar etwas so Furchtbares, dass sie am Tag der Show nicht kommen konnte. Dass seine Mutter nicht damit einverstanden sein wird, dass er sich aus dem Haus geschlichen hat, bereitet ihm kein Kopfzerbrechen. Er vermutet zu Recht, dass heute einer jener Tage ist, an denen man nicht wegen der üblichen Dinge geschimpft wird.
    Rasia setzt sich neben ihn, nimmt ihn in die Arme, und er fängt an zu weinen. Das Licht wird gedämpft, die Show fängt an.
    »Möchtest du nach Hause?«, flüstert Rasia.
    »Nein«, flüstert Vaclav, »ich möchte bleiben.«
    Rasia ist froh, denn sie ist immer noch unsicher, was sie Vaclav sagen soll, und sie ist neugierig auf die
Sideshow
. Vaclav möchte bleiben, weil er davor Angst hat, dass am heutigen Tag die Zeit vergeht. Er weiß, dass dieser Augenblick bald in eine neue Zeit übergeht und dass die Zeit davor, als er allein dasaß und über nichts Bescheid wusste, bald vorbei sein wird, und |136| dass er nun etwas erfährt. Es gibt kein Zurück, wenn man erst einmal etwas weiß, denn von da an weiß man es für immer.
    Gemeinsam schauen sie zu, wie Insectavora die Leiter aus Messern erklimmt, dann schauen sie zu, wie der Glasfresser Glas isst und der Human Blockhead sich Nägel in seine Nase hämmert. Vaclav bleibt in Rasias Arm gekuschelt, und selbst als der Große Fredini auftritt und eine Nummer vorführt, die hinreißend und urkomisch ist, kann Vaclav die Tränen nicht unterdrücken.
    Als das Bühnenlicht vor der letzten Nummer wieder gedämpft wird, weiß Vaclav, was als Nächstes kommt.
    Heather Holliday ist braun gebrannt, aber nicht sonnengebräunt, sondern wie jemand, der schon mit brauner Haut auf die Welt gekommen ist. Ihr Haar hat zwei verschiedene Farben, Weißblond und Schwarz, und ihre Frisur gleicht der einer Dame aus der Zeit des Schwarz-Weiß-Fernsehens. Sie hat rosige Wangen wie ein kleines Mädchen und trägt einen silbernen Nasenring. Sie lächelt, ohne die Zähne zu zeigen, und ihr Lächeln ähnelt einem Augenzwinkern.
    Sie trägt den goldenen Bikini.
    An Heather Hollidays Bikini gibt es etwas, das Vaclav traurig stimmt,