Vaethyr - Die andere Welt
zwischen mir und dieser schrecklichen Ehe gewonnen habe. Sonst ginge ich unter, Sam.«
»Ich weiß, Süße«, sagte er zärtlich. »Du glaubst doch nicht etwa,ich würde das aufs Spiel setzen wollen, jetzt, wo wir so weit gekommen sind? Wir lassen es ganz langsam angehen.«
»Ich werde in Oakholme bleiben, jedenfalls so lange, bis Lucas sich erholt hat.«
»Das ist der Heilige Gral, nicht wahr?«, sagte Sam. »Lucas nach Hause zu bringen. Dann weiß ich auch, dass du glücklich bist, Füchslein.«
Das Taxi machte kehrt und ließ Lucas allein auf der breiten Auffahrt zurück. Er starrte hinauf zu den Mauern von Stonegate Manor. Gegen sein Bibbern war er machtlos, denn er hatte sich so sehr an die Hitze im Krankenhaus gewöhnt, dass ihm jetzt die Kälte in die Knochen fuhr, was der Anblick des Hauses, das so einladend war wie eine Felswand, nicht besser machte. Es war acht Uhr morgens und zweifellos lag seine Familie noch in den warmen Betten, ohne zu ahnen, dass er nicht mehr auf der sicheren Krankenstation weilte.
Er hob den schweren eisernen Türklopfer und ließ ihn fallen – sein Nachhall dröhnte durchs ganze Haus. Keiner kam. Schmelzwasser tropfte vom Verandadach auf ihn herab. Über den Himmel zogen grauen Wolkenfetzen und gleich unten am Fuß des Berges lag sein gemütliches Zuhause … aber er konnte nicht dorthin zurück. Nicht einmal Rosie oder Auberon konnten ihm helfen.
Er presste seine Arme an den Leib und hoffte auf diese Weise etwas Wärme in seinem dünnen schwarzen Trenchcoat zu finden. Die Verzweiflung hatte ihn aus dem Krankenhaus getrieben. Er war zu rastlos gewesen, um noch länger dortzubleiben, denn ständig musste er an das Lych-Tor denken und was passieren konnte, sofern es offen blieb. Er klopfte erneut, eiskalt lag das Eisen in seinen Fingern, dann trat er zurück, um an den trutzigen Fenstern hochzuschauen.
Als er die Hoffnung bereits aufgeben wollte, öffnete sich die Tür. Lawrence stand mit kalkweißem Gesicht, die Augen wintergrau unter den dunklen Brauen auf der Schwelle. Kein Anflug von Warmherzigkeit, nicht einmal Wiedererkennen. Verzagt sah Lucas ihn an. »Was willst du?«
»Lawrence – Vater –, du musst mir helfen.«
»Jon ist nicht da. Alle sind weg.« Seine Finger krampften sich um die Türkante. »Wann hat man dich aus dem Krankenhaus entlassen? Ich will keinen hier sehen.«
Lucas sah ihn verwirrt an. Ihm war viel zu kalt und er war viel zu verzweifelt, um auf diese Aussage einzugehen. »Aber du bist derjenige, den ich sprechen muss. Bitte.«
»Warum?« Das Wort kam wie ein dunkles Flüstern aus dem Abgrund.
»Weil ich das Lych-Tor geöffnet habe … außerdem ist, wie ich glaube, die Macht des Torhüters auf mich übergegangen, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Außer dir gibt es wirklich keinen, an den ich mich wenden kann.«
Lawrence verharrte reglos, nur sein Augenausdruck veränderte sich. Ein gieriges Licht loderte darin. Er streckte eine blutleere Hand aus und packte Lucas an der Schulter. »Zeig es mir.«
Der Boden war schneebedeckt und Lucas’ Stiefel waren durchnässt. Atemlos vom Anstieg stammelte er seine Erklärung, während Lawrence ihn durch den halb verwilderten Garten und den kahlen Wald hinauf zu Freias Krone hetzte.
Der gefaltete Fels ragte schroff und kalt in den Himmel. Er wirkte undurchdringlich, aber sobald Lucas in die Schattenreiche eintauchte, sah er den Riss im Fels. Der kalte Wind brannte in seiner Kehle. Lawrence blieb unvermittelt stehen und packte Luc grob am Arm, um ihn aufzuhalten.
»Jetzt sehe ich es. Warum habe ich es zuvor weder gesehen noch gespürt? Ist meine Wahrnehmung denn völlig gestört?« Seine Miene war finster und verschlossen, wütend und bedrohlich. Seine Stimmung alarmierte Luc mehr als das offene Lych-Tor. »Wie konnte ich das übersehen? Wie? «
»Ich weiß es nicht.« Lucas fühlte sich wie ein Sechsjähriger und war den Tränen nah. »Ich habe es dir doch gesagt, es ist einfach so passiert. Ich glaubte eine Vision zu haben und …«
»Und keiner hielt es für angebracht, es mir zu sagen. Nicht einmal Sam.«
»Sie haben alle Angst vor dir.«
»Und sie sind alle blinde Narren!« Seine Augen waren funkelnde Rasierklingen. »Angst vor mir, wo ich sie doch immer nur beschützt habe? Bist du dir sicher, dass wirklich nichts durchkam?«
Das fragte er ihn jetzt schon zum zehnten Mal. Lucas schüttelte den Kopf.
Im Krankenhaus hatte er sich gut gefühlt, aber mittlerweile spürte er, wie schwach und
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