Vaethyr - Die andere Welt
fragte ständig, warum ich weinte.
Rosie biss sich auf den Daumen. Faiths Traurigkeit tränkte jede Zeile. Sie las die Einträge voller Schuldgefühle, konnte aber nichtaufhören. Hatte heute ein gutes Gespräch mit Jessica , lautete ein typischer Eintrag. Sie ist so lieb. Wenn sie nicht wäre, würde ich vielleicht einfach gehen .
Was bedeutet es, dass ich kein Menschenwesen bin? Ich glaubte menschlich zu empfinden, aber vielleicht ist dem gar nicht so, weil ich gar nichts anderes kenne. Festzustellen, dass man ein Elfenwesen ist, sollte mit keinerlei Scham verbunden sein und man sollte es nicht vor dem einen Menschen verbergen müssen, der es verstehen müsste. Doch unabhängig von M. – was bedeutet es für mich ? Ich sehe Bilder von silberblauen Seen, die kein Ende nehmen, ich schwimme und schwimme darin. Es gibt prächtige Unterwasserhöhlen. Wenn ich am fernen Ufer aus dem Wasser steige, sehe ich – oh, es ist so klar –
Die Küchentür ging auf. Rosie blickte vom Tagebuch auf und sah ihre untröstliche Mutter vor sich. Sie trug ihre kakifarbene Wanderjacke, das Haar war von Wind und Regen zerzaust. »Mum?«, fragte sie, obwohl es sich eigentlich erübrigte. »Was ist los?«
Jessica bewegte sich und streifte ihre feuchte Jacke ab. »Ich war oben vor Stonegate.«
»O Mum.« Rosie hängte das Kleidungsstück über einen Stuhl und umarmte sie. Es tat weh, die Schatten unter ihren Augen zu sehen. »Wir haben doch darüber gesprochen.«
»Ich habe nicht versucht Luc zu sehen«, erwiderte Jessica steif. »Ich ging zu Freias Krone. Ich wollte dorthin, um Faith zu suchen. Um zu sehen, ob es ihr gut geht, und um sie zurückzuholen. Aber das Lych-Tor ist geschlossen.« Sie hielt ein offenes Armband aus Weißgold und Albinit in der Hand, der schwach violett auf ihre Berührung reagierte. »Ich habe nach dem grünen Aufblitzen gesucht, das auf ein offenes Portal hinweist. Nichts.«
»O mein Gott. Du hättest nicht allein dorthin gehen dürfen!«
»Nun, jetzt ist es zu spät. Wo das Lych-Tor war, sieht man jetzt silberne Sprenkel, aber es ist wieder fest geschlossen.«
»Oh!« Rosie lehnte sich mit verschränkten Armen am Tisch an. »Kann es sich denn ohne Hilfe von außen wieder schließen?«
»Nein. Entweder hat Lawrence es getan oder er hat Luc gezwungen, es zu tun. Faith sitzt in der Falle. Ich vermisse sie so sehr.«
»Mir geht es genauso«, sagte Rosie. Und dabei beschlich sie Angst,ein Gefühl, das sie bisher zu unterdrücken versucht hatte, weil sie schon genug Probleme hatte. Faith unerreichbar – das war undenkbar, aber was kümmerte das Lawrence? Ein düsterer, erboster Zug lag auf Jessicas Gesicht – so hatte Rosie sie noch nicht erlebt. »Meine größte Angst war immer die, dass Lawrence Lucas in seine Finger kriegen würde, und jetzt hat er ihn. Fast bin ich geneigt zu glauben, dass Phyll und Comyn recht haben. Uns bleibt keine andere Wahl, wir müssen Lawrence zu Fall bringen.«
Rosie stand vor der Alten Eiche und schaute hinauf in ihre kahlen Zweige. Der Winter verabschiedete sich, Schneeglöckchen blühten und Narzissen schoben ihre Blätter aus der Erde. Es war das erste Mal, dass sie es über sich brachte, diesen Ort zu besuchen. Die Trümmer waren längst weggeräumt, aber noch immer sah man die Reifenspuren, die auf den Unfall hinwiesen, sowie frische Stümpfe, die dort, wo man die geknickten Äste amputiert hatte, weiß leuchteten. Glassplitter glänzten im Asphalt.
Leute hatten dort Blumen niedergelegt. Die meisten stammten von Kollegen von Fox Homes. Und mehr als alles andere versetzte dieser Blumenschrein ihr einen Schock. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Schauplatz ihr so zusetzen würde, doch die in ihr aufsteigende Hitze war so fürchterlich, dass sie kaum noch Luft bekam.
Sie fragte sich, wo die Dryade wohl sein mochte, die sie so inständig vor dem Blut gewarnt hatte. Kein Wispern war von ihr zu hören. »Grüne Frau?«, rief Rosie sie leise. »Du musst das vorhergesehen haben. Du batest mich, es zu verhindern, aber ich konnte es nicht. Es tut mir leid.« Nichts rührte sich. Der Baum sah verlassen aus.
Als der Frühling kam, machte Rosie sich daran, einen Garten anzulegen. Sie hatte schon vor einiger Zeit damit begonnen, und zwar in dem verwahrlosten Rosengarten, der an der Grenze von Oakholme und Stonegate lag – dem Ort, wo sie vor Jahren Matthew gefunden hatte, nachdem dieser mit Sam gekämpft hatte. Aber sie hatte sich nicht entschließen können, welche Form sie
Weitere Kostenlose Bücher