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Mira und der weiße Drache (German Edition)

Mira und der weiße Drache (German Edition)

Titel: Mira und der weiße Drache (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margit Ruile
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1. Kapitel
    in dem erzählt wird, was aus einer Amsel werden kann
    Auf einer der vielen Leitungen, die sich über die regenglänzenden Gleise vor dem Bahnhof spannten, saß eine Amsel. Der Wind fuhr ihr durch das braune Gefieder, und sie duckte sich vor den Regentropfen, die vom tintenblauen Himmel fielen.
    Die Menschen unter ihr suchten in einem gläsernen Wartehäuschen vor dem Regen Schutz. Ein Mann stützte sich gelangweilt auf seinen Rollkoffer. Zwei Frauen mit bunten Kinderwagen und viel Gepäck standen neben tuschelnden Teenagern. Ein dicker Junge saß auf einer Bank und spielte mit seinem Gameboy und ein Mädchen mit einem großen blauen Koffer und einem schweren Rucksack auf den Schultern umarmte gerade seine Mutter.
    Die Amsel wippte auf der Leitung hin und her, die unter ihrem Gewicht leicht zitterte. Von dort, wo die Gleise sich am Horizont verloren, kam ein leuchtend roter Regionalzug angefahren. Die Amsel flatterte hoch und steuerte auf eine Litfaßsäule zu, die am Ende des Bahnsteigs stand. Hier gurrten ein paar schmutzige Tauben, die schnell aufflogen, als die Amsel sich niederließ. Gleich darauf fuhr der Zug ein und hielt mit einem lang anhaltenden und ohrenbetäubenden Quietschen seiner Bremsen.
    In diesem Moment löste sich eine elegante Frau mit langen schwarzen Haaren aus der Menschentraube, die sich Richtung Gleise bewegte. Trotz ihrer hohen Schuhe lief sie schnell und energisch durch den Regen auf den hinteren Waggon zu. Sie hatte keinen Schirm bei sich und auch kein Gepäck. Ihr Gesicht wirkte missmutig und seltsam alterslos. Sie zog die hintere Waggontür auf, trat auf die erste Stufe und sah sich um. Nicht nach den anderen Menschen. Sie blickte nach oben. Gespannt beobachtete sie die auffliegenden Tauben und wollte fast den Blick schon wieder abwenden, als sie die kleine Amsel entdeckte. Der Vogel rührte sich nicht. Die Frau starrte ihn kurz an, nickte unmerklich mit dem Kopf und stieg ein.
    Wenig später setzte sich der Zug schwerfällig in Bewegung und die Amsel flog los. Sie landete auf dem letzten Waggon. Bevor der Zug an Geschwindigkeit zunahm, drückte die Frau die zerkratzte Scheibe ihres Abteilfensters herunter und blickte erneut nach oben. Der Fahrtwind trieb ihr den Regen ins Gesicht. »Komm«, rief sie der Amsel zu. Die Amsel flog von dem Dach hoch, kämpfte gegen den Wind und flatterte durch das geöffnete Fenster, um auf den verblichenen grünen Polstersitzen des Abteils zu landen.
    Die Frau sah den Vogel kurz an, öffnete dann die Tür des Abteils und blickte in den Gang. Er war leer. Nur das Mädchen mit dem blauen Koffer suchte offenbar noch einen Platz, verschwand dann aber zwei Türen weiter in einem Abteil. Die elegante Frau schloss die Tür und zog den Vorhang zu. Dann strich sie sich den schmalen Rock ihres braunen Kostüms glatt und setzte sich dem nassen kleinen Vogel gegenüber. »Du kannst dich zeigen!«, sagte sie schließlich.
    Der Vogel schüttelte sich und plusterte sein Gefieder auf. Und plötzlich war da keine Amsel mehr! Auf dem Polster saß ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. Es war nass und schmutzig, seine roten Haare hingen ihm in feuchten Strähnen über die Stirn. Das Mädchen war sehr dünn, ja fast schon dürr und steckte in viel zu großen Hosen, die so aussahen, als wären sie schon lange Zeit nicht mehr gewaschen worden. Das blaue, verblichene Sweatshirt hatte am Ärmel einen Riss. »Ich musste ganz schön lange warten!«, sagte das Mädchen und schüttelte seine roten Haare, dass die Wassertropfen spritzten.
    Für einen kurzen Augenblick huschte ein überraschter Ausdruck über das Gesicht der Frau. Das Mädchen fasste in seine Hosentasche und holte einen zerschlissenen Haargummi heraus, mit dem es seine widerspenstigen Haare zusammenband. Jetzt konnte man mehr von ihm sehen. Es hatte eine spitze Nase und hellbraune, wache Augen, mit denen es die Frau vor sich neugierig musterte. Die verzog ihre grellrot geschminkten Lippen zu einem dünnen Lächeln. »Du bist also Miranda«, stellte sie fest. »Ein Kind. Interessant!«
    » Ihren Namen wollten Sie mir ja nicht verraten«, erwiderte Miranda unbeeindruckt und lehnte sich lässig in dem gepolsterten Sessel zurück.
    »Und das hat auch seinen Grund«, sagte die Frau kurz.
    Miranda sah sich in dem schmutzigen Abteil um.
    »Ich finde das hier einen ziemlich blöden Ort für eine Verabredung.« Die Frau blickte Miranda mit ihren kalten Augen an. »Keiner von uns nimmt je den Zug«, sagte sie.

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