Vaethyr - Die andere Welt
Treppe hinauf in Sapphires Reich. Dort war die Atmosphäre freundlicher als im Rest des Hauses. Er legte sich ins Bett, aber häufig fand er keinen Schlaf, sondern starrte an die Decke und lauschte der Stimme, die auf dem Dachboden murmelnd Selbstgespräche führte.
Lawrence war immer vor ihm auf. Häufig war er schlecht gelaunt und schloss sich in seiner Werkstatt ein, sodass Lucas sich selbst überlassen war. Halbherzig erforschte er die Bibliothek oder las. Dieschattenhaften Disir trotteten mit ihm, ob beschützend oder bewachend hätte er nicht sagen können. Er bestellte Lebensmittel im Internet, die er mit Lawrence’ Kreditkarte zahlte, und nahm sie an der Küchentür in Empfang. Jedes Mal, wenn Lucas einen Blick in die Außenwelt warf, kam ihm der verlockende Gedanke, einfach wegzugehen. Aber dann machte er doch die Tür wieder zu und verriegelte sie von innen.
Als es Frühling wurde, dachte er öfter daran, wegzugehen. Doch je öfter er es in Erwägung zog, umso weniger schien er dazu in der Lage zu sein. Lawrence hatte ihm lähmendes Entsetzen eingeimpft. Außerdem hatte Lucas das Gefühl, noch immer nicht genug gelernt zu haben, und große Angst davor, ein lebenswichtiges Geheimnis zu verpassen. Und schließlich konnte er auch nicht einfach seinen Vater verlassen. Ginge er, würde Lawrence sicherlich verhungern.
Doch der Drang wurde stärker. Er musste die Erlaubnis einholen, das war die Lösung. Als sie einmal mittags am Küchentisch saßen und Lucas mit zitternden Händen ein Brötchen zerteilte, verkündete er, es sei an der Zeit, seine Familie zu besuchen.
Lawrence erstarrte. »Ich kann dich nicht davon abhalten«, sagte er, »aber ich rate dir davon ab, Lucas. Es ist zu gefährlich.«
»Ich werde mich nicht in die Nähe der Tore begeben.«
Auf dem bleichen Gesicht konnte er deutlich die Missbilligung lesen. »Darum geht es nicht. Ist dir denn nicht klar, dass unsere Feinde da draußen nur darauf brennen, dich in ihre Hände zu bekommen?«
»Mich?«
»Du begreifst die Gefahr, sie aber nicht. Comyn und seine Meute werden die Öffnung der Tore erzwingen, und zwar um jeden Preis. Ist dir nicht klar, dass du, wenn du einen Fuß nach draußen setzt, Gefahr läufst, gekidnappt zu werden?«
Lucas war schockiert. »Das klingt … dramatisch. Das würden sie nicht tun.«
»O doch, das würden sie. Sie schrecken vor nichts zurück. Unser selbst auferlegtes Exil hier ist kein Spaß, sondern ein Opfer, das wir bringen, damit die Sicherheit der Erde gewährleistet bleibt!« Und Lawrence beschrieb mit leiser Wut in der Stimme die Schrecken, die Lucas erwarteten, wenn er ginge.
»Und wenn nun dir etwas zustößt?«, schrie Lucas und sprang auf. »Was ist, wenn der Court mir die Macht wieder wegnimmt und an jemand anderen weitergibt? Was dann? Du kannst die Tore nicht für immer geschlossen halten!«
Lawrence sprang blitzartig auf und warf den Tisch um. Geschirr fiel krachend zu Boden und Essen wurde überall verstreut. »Sprich nicht davon! Wag es nicht, es auch nur anzudeuten!«
Lucas flüchtete.
Später, als er zu zittern aufhörte und sich vom Bett erhob, wo er sich in einer Ecke zusammengerollt hatte, brach die Verzweiflung in ihrer ganzen Wucht über ihn herein. Es gab kein Entrinnen. Er ging sogar davon aus, dass Lawrence ihn eher umbrächte, als gehen zu lassen – aber am schwersten war seine Missbilligung zu ertragen. Wieder hörte er das Kratzen und Weinen des Geistes auf dem Dachboden. Knurrend warf er ein Kissen an die Zimmerdecke.
Entmutigt saß Lucas auf seiner Bettkante und starrte auf seine Füße. Es war nicht das erste Mal, dass sein Vater die Kontrolle verlor. Lawrence würde den Tisch wieder hinstellen und die Unordnung aufräumen, danach würde alles weiterlaufen wie zuvor, obwohl nie ein Wort der Entschuldigung über seine Lippen käme.
Ich bin genauso verrückt wie er , überlegte Lucas. Ich werde hier alt und grau werden und mich in ein kratziges, irres Gespenst verwandeln, wie das Ding auf dem Dachboden … »Verdammt noch mal, sei endlich still !«, sagte er laut. Es ignorierte ihn.
Verzweiflung und Panik überwältigten ihn. Er sehnte sich nach einer Fluchtmöglichkeit, aber der einzige Ort, wo er sich verstecken konnte, war dort oben. Vielleicht könnte er vom Dach springen. Benommen lief er über den Treppenabsatz, bis er die kleine Tür zum Dachboden fand. Er kletterte die schmale Treppe hinauf und tastete oben angekommen nach dem Lichtschalter, an den er sich noch
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