Vaethyr - Die andere Welt
erschreckt. Das Wesen war ihm gefolgt, als er aufsprang, und hatte zu seinen zwei Dimensionen noch eine dritte angenommen und stand dann Auge in Auge mit ihm,ein in die Dunkelheit geschnittenes Gespenst, das Gesicht genauso erstaunt wie seines.
Nachdem Lucas den Schock überwunden hatte, wurde ihm klar, dass dieses Geschöpf sich mehr erschrocken hatte als er: Es war harmlos und substanzlos wie ein Elementarwesen. Es sprach nicht, sondern kniete sich auf die Fußbodendielen und versteckte sich unter seinem Haar. Als er das zweite Mal nach oben kam, war es wieder mit der Leinwand verschmolzen und er musste es wieder herauslocken.
Jetzt näherte er sich ihm vorsichtig, bemüht, ihm keinen Schrecken einzujagen. Seine gertenschlanke Gestalt war sienabraun schattiert, das Fleisch cremefarben hervorgehoben, langes, gewelltes bronzefarbenes Haar bedeckte den nackten Körper. Die Leinwand dahinter war von leerem Indigo. Die Form der Flügel hing wie eine Skizze über ihm in der Luft, ein zarter hoher Bogen, der sich mit der Engelsgestalt bewegte.
»Hallo, ich bin es wieder«, flüsterte er. »Ich habe dir etwas Wasser und Essen mitgebracht … hier ist ein Käsesandwich und etwas Kuchen. Ich weiß nicht, ob du was isst, aber …«
Die Kreatur hob ihren Kopf und richtete ihren Blick auf das, was er aus seiner Tasche zog. Ihr Gesicht war feminin zart und perfekt, ein echtes Feengesicht. Die Augen waren feste goldene Kugeln, nicht menschlich, zeitlos und wachsam. »Es ist gut«, sagte er. »Ich werde mich zu dir setzen. Du bist nicht allein.«
Zu seiner Überraschung streckte sie ihre Hand aus und nahm ihm die Flasche Wasser ab. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und goss es sich bei geöffnetem Mund übers Gesicht. Der rote Kringel ihrer Zunge vor dem Dunkel war ein bestürzender Anblick. Sie nahm einen Bissen Brot, den sie aber ausspuckte, der Kuchen schien offenbar eher nach ihrem Geschmack zu sein. Sie leckte und knabberte daran.
»So süß«, sagte sie und hatte dabei tränenfeuchte Augen.
Es war das erste Mal, dass sie gesprochen hatte. Lucas setzte sich mit Herzklopfen neben sie auf den Boden. »Nicht weinen«, sagte er. »Oder erzähl mir wenigstens, warum du weinst.«
»Lucas«, flüsterte sie und berührte seinen Arm mit langen, dünnen Fingern.
»Das bin ich. Hast du auch einen Namen? Ich weiß ja nicht, ob dutatsächlich aus Farbe gemacht bist oder ob ich dich bloß träume, aber du brauchst einen Namen.«
Sie legte ihre Fingerspitzen an ihren Mund. »Iola.«
»Iola, ein hübscher Name.«
Zögernd erforschte sie ihr Gesicht mit ihren Fingern. Ihre Stimme war schwach und mangels Gebrauch brüchig. »Ich bin nicht aus Farbe gemacht. Ich bin wie du.« Er wollte sie fragen, ob sie damit sein elfisches Wesen oder etwas anderes meinte, aber sie unterbrach ihn und ihre Blattgoldaugen wurden groß. »Ist er noch immer hier?«
»Meinst du Lawrence?«
Der Engel bebte. »Ja. Lawrence.«
Lucas wurde das Herz schwer. »Ja, er ist noch da. Warum fragst du?«
Ihre Lippen öffneten sich und sie erstarrte zu einer Skulptur. »Dann darf ich nicht herauskommen.«
»Nein.« Lucas packte sie am Arm aus Angst, sie könnte wieder in der Leinwand verschwinden. Sie zuckte zusammen. »Tut mir leid«, sagte er und ließ los. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Bitte bleib bei mir. Er wird nicht hierherauf kommen, das tut er nie. Warum versteckst du dich vor ihm?« Iola senkte den Kopf und antwortete nicht. »Du hast offenbar Angst vor ihm. Mir geht es genauso. Du bist hier schon seit Jahren, nicht wahr?«
»Du bist warm«, sagte sie seufzend. »Mir ist so kalt.«
»Komm mit mir nach unten. Du solltest nicht allein hier oben sein.«
Sie schüttelte nur ihre hüftlangen Locken. »Ich kann nicht weg. Solange er noch im Haus ist, muss ich mich verstecken.«
Lucas brachte ihr jeden Tag zu essen und Iola gewann immer mehr an Substanz. Sie begann sich auf dem Dachboden zu bewegen, erprobte ihre Füße und Beine. Ihre Flügel waren bald nur noch geisterhafte Schemen, wenn überhaupt. Lucas brachte ihr Kleider, die sie aber nicht anziehen wollte. Sie strich sich mit den Fingern durch ihr Haar, starrte eine volle Stunde lang in einem altersfleckigen Spiegel ihr Spiegelbild an, wirbelte herum, sodass ihr Haar sich wie ein Fächer ausbreitete. Lucas gab sich alle Mühe, nicht die auf diese Weiseenthüllte elfenbeinfarbene Haut anzustarren, versagte dabei aber kläglich.
Sie sah noch immer vergoldet und fantastisch aus wie ein
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