Vaethyr: Die andere Welt
Lucas spürte, wie die Tore sich öffneten – spürte, wie all dieser gewaltige Widerstand seinem Willen nachgab –, stürzte sich der Zorn des Universums auf ihn. Ein Blitzschlag warf seinen Geist nach Asru. Er sah eine riesenhafte Basaltstatue auf einem schwarzen Berg über dem Abyssus stehen; sah, wie Leben in sie kam und sie ihren Kopf hob, um Lawrence’ Rufe zu hören. Er sah, wie sie sich aufrichtete und halb schreitend, halb fliegend über den Damm kam, schwerfällig und bedrohlich, doch schwerelos, so schwarz wie das All und sie blendend wie eine Vielzahl von Sonnen – ein Paradox, das seinen Geist völlig umkrempelte.
Schemenhaft sah er die Alten des Spiral Court in Panik die Flucht ergreifen, Estel in Eulengestalt auf einem Ast des Weltenbaums hocken und das Ende der Welt verfolgen, wie sie deren Anfang verfolgte hatte, und Albin, ein weißer Schemen in der Dunkelheit, der mit zurückgeworfenem Kopf schrie …
Der Schrei kam aus Lucs eigener Kehle. Er kehrte in die Realität aus Sturmbrausen und Donner zurück und sah, dass sein Vater ihn zu Boden drückte. Lawrence’ Gesicht war schmerzverzerrt, die Augen irr. Lucs Instinkt befahl ihm zu fliehen, aber kräftige Arme hielten ihn fest.
»Er ist da.« Lawrence’ Stimme war nur ein qualvolles Krächzen. »Und wenn ich dich ihm jetzt als Opfergabe in den Weg werfe, mein liebster Sohn? Wird ihn das beschwichtigen? Ein Verlust, der groß genug ist, um ihn zur ewigen Ruhe zu betten? Wenn er den letzten Torhüter verschlingt, wird uns das Frieden bringen? Kann ich es tun?«
Lucas öffnete seinen Mund, brachte aber kein Wort über die Lippen. Auf Lawrence’ Fragen gab es keine Antwort. Er ging davon aus, dass er nun doch den letzten Sturz in den Abyssus tun würde – aber er weigerte sich. Lautlos schreiend kämpfte er mit jedem Atom seines Willens dagegen an, aber sein Körper war gefesselt. Schmerz zerrte an seinen Gliedern, während der Verrückte, der einmal Lawrence gewesen war, ihn herumdrehte, damit er den Schatten am Himmel sah, dem er dargeboten wurde …
»Nein«, presste Lawrence hervor. Die Worte waren ein wildes Schluchzen. »Ich kann es nicht. Nicht du, niemals. Ich werde nicht zulassen, dass er dich holt! Geh, Lucas. Lauf!«
Er war frei, wurde fast auf seine Füße geworfen. Dieser tätliche Angriff erdrückte ihn fast. Auf seiner Flucht kämpfte er sich durch ein Meer von Leuten, denen der Schrecken jegliche Identität genommen hatte. Kurze Zeit rannte Lawrence neben ihm – dann wurden sie vom wuselnden Chaos getrennt und Lucas floh allein weiter. Es war das Letzte, was er von Lawrence sah.
Auf dem Berg war Sapphire an den Rand der Menge gedrängt worden, aber kein Elfenwesen kümmerte ihre Anwesenheit. Nun, sie hatten es getan, sie hatten Lawrence in die Knie gezwungen. Nur merkwürdig, dass überhaupt kein Triumphgefühl bei ihr aufkommen wollte. Ihr Kopf schmerzte. Sie hörte die Stimmen von Luc und Lawrence – bei den Worten des Letzteren stellten sich ihr die Nackenhaare auf: » Sollen sie ihren Willen bekommen « – aber Freias Krone war für sie nur ein Felspfropf. Was sahen sie, was sie nicht sehen konnte?
In der Luft baute sich Druck auf, so kraftvoll, dass selbst ein Mensch ihn spürte. Sie spürte die atmosphärische Spannung des drohenden Gewitters. Erschrocken hielt sie die Luft an, während die Wirklichkeit um sie herum sich verzerrte und sie plötzlich sah . Die Landschaft war in rötliches Gewitterlicht getaucht. In rauschhafter Erregung wurde ihr klar, dass Lawrence sie irregeführt hatte: Selbst ein Mensch konnte die anderen Reiche betreten, wenn auch nur einen Herzschlag lang.
Der Fels spaltete sich, der Sturm brach los. Die Wirkung auf die Vaethyr war erstaunlich. Sie schrien auf, rissen ihre Arme hoch an Köpfe und Augen. Flüchtend zerstreuten sie sich in alle Richtungen, als hätte unter ihnen eine Bombe eingeschlagen.
Fast wäre Sapphire bei dieser überstürzten Flucht umgeworfen worden. Sie ließ sich hinter einen Fels fallen, an den geklammert sie zusah, wie Blitze aus den Wolken züngelten und ein feuchter Sturm an ihren Haaren zerrte. Obwohl sie nicht sehen konnte, was die Elfenwesen panisch in die Flucht geschlagen hatte, spürte sie etwas – unsichtbar strich ein eisiger Schleier über sie, dessen eine Berührung fast ausreichte, ihr den Verstand zu rauben –, was dann aber schnell wieder verschwunden war.
Binnen weniger Sekunden war der Berg leer gefegt. Im Wechsel zwischen grellem Licht und
Weitere Kostenlose Bücher