Vaethyr: Die andere Welt
fließend.« Seine Stimme war rau. »Vermutlich ist das der entscheidende Unterschied zwischen uns und den Sterblichen.«
Rosie erschauderte unter der Kälte, die sie beschlich. Sie schaute zurück durch die Bäume und dachte dabei an den Klippenrand dahinter und den hohen Damm. Sie stellte sich Sam dabei vor, wie er diesen überquerte; eine flinke Flamme, die zielgerichtet dem Herzen entgegenstrebte. Hatte er noch immer Höhenangst? »Die Seelen-Essenz fliegt zum Spiegelteich, aber sie vergisst ihr früheres Leben und alle, die sie früher geliebt hat«, sagte sie. »Und wenn Lawrence mit Brawth in den Abyssus gegangen ist, um der Qual ein Ende zu bereiten, weil er glaubte, allen um sich herum nur Elend gebracht zu haben …?« Ihre Stimme war fast nicht zu hören. »Wie sollen Jon und Lucas damit leben?«
»Sie sind stark«, sagte Auberon.
»Jon nicht.«
»Er wird es werden.«
»Was soll ich sagen, wenn die Leute mich auf Sam ansprechen?«, hauchte sie. »Ich kann es nicht aussprechen, dieses Wort: tot . Ich werde ihnen nur sagen, dass er mit seinem Vater weggehen musste. Dann kann ich das auch glauben.«
Und als sie den Hang hinuntergingen und sich vor dem täuschend schmalen Spalt der Tore in den Schutz der Bäume begaben, wandte Rosie sich um und erblickte den Berg und die Lapis-Platten. Aus dieser Entfernung und diesem Blickwinkel konnte man nicht erkennen, ob Körper darauf lagen. Sie sahen leer aus. Merkwürdigerweise war sie erleichtert.
Im tiefen Kobaltblau des zeitigen Morgens blieb Virginia auf dem Berg zurück. Sie hatte Jon umarmt und ihm gesagt, sie werde bleiben, was er traurig hinnahm. Sie müsse allein Wache halten.
Sie küsste Sams geschlossene Augen und wandte sich dann Lawrence zu, der mit seinem leichenblassen, zum Himmel zeigenden Gesicht wie eine Statue dalag. Ihn wiederzusehen war ein großer Schock gewesen. Sein Gesicht war so vertraut, obwohl sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie legte eine Hand auf die Kanten von Wange und Kiefer. Die Haut fühlte sich ein wenig kalt an, doch eher wie Papier als Eis.
»Du verdammter Narr«, sagte sie. »Was machst du bloß? Läufst schon wieder davon?«
Der Wind blähte ihren Umhang. Sie zog ihn enger um ihren Leib.
»Als stünde mir das zu«, seufzte sie. »Ich bin davongelaufen. Ich hatte nicht verstanden, dass das Grauen mit dir verbunden war und sich an dich geheftet hatte. Jetzt verstehe ich es. Und du – hast du die Lektion jetzt gelernt?« Sie berührte mit ihren Fingern sein dichtes tintenschwarzes Haar. Ihre Augen brannten. Tränen tropften auf seine geschlossenen Lider. »Das wirst du wohl. Endlich hast du dich ihm gestellt und es hat dich vernichtet, womit du auch gerechnet hattest. Wie tapfer von dir!«
Eine Weile saß sie schweigend vor ihrem Ehemann und ihrem ältesten Sohn und betrachtete den fahlen Himmel. Dann beugte sie sich hinab und küsste Lawrence auf die Lippen, die nach dem Salz ihrer Tränen schmeckten.
Von irgendwoher kam ein zartes Flüstern: Ginny .
~ 26 ~
Wenn wir träumen
»Du hast mein Tagebuch gelesen?«, sagte Faith und bekam vor Entrüstung ihren Mund nicht mehr zu. »Du hast mein Tagebuch gelesen?«
»Sorry.« Rosie schämte sich. Inzwischen war Juli und der verhängnisvolle Tag der Hirschjagd lag zwei Monate zurück – so lange hatte sie gebraucht, um es zugeben zu können. Zusammen mit Lucas saßen sie und Faith in ihrem Zimmer im Schneidersitz auf ihrem Bett. »Matt ist darauf gestoßen – und da er so unglaublich erstaunt darüber war, konnte ich nicht anders. Im Nachhinein war es natürlich mies von mir. Kannst du mir verzeihen?«
Faith senkte ihren Kopf, sodass ihr Haar nach vorne fiel. »Da gibt es nichts zu verzeihen. Es ist mir nur peinlich, wenn Leute diesen Unsinn sehen.«
»Es war kein Unsinn, Fai. Was du geschrieben hast, ist unglaublich. Es tut weh, aber es ist wunderbar. Ich hatte keine Ahnung …«
Sie schaute lächelnd auf. »Auf Papier kann ich Dinge ausdrücken, die ich nie laut aussprechen könnte.«
»Matt kamen darüber die Tränen. Mir auch. Die Magie der Verwandlung war genauso groß wie alles, was in der Anderswelt passiert.«
»Hat es geholfen, seine Meinung zu ändern?«
»Ja. Um ihn zu verändern«, sagte Rosie. »Zwischen euch läuft es jetzt doch wohl besser, oder?«
»Es ist komplett anders. Jetzt kann ich auf Heather stolz sein und muss sie nicht mehr verstecken.« Ihre Augen wurden groß. » Alles ist besser zwischen uns. Heute Abend, in der
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