Valentine
mit den Privatgemächern entlang und lief die elegante Treppe zur Eingangshalle hinauf. Ein letzter Blick zurück, alles war ruhig, dann schlüpfte sie hinaus.
Tief durchatmend lehnte sich Valentine gegen die Eingangstür und blickte in den Himmel. Es war eine trübe Nacht. Die Regenwolken drückten schwer herab und verhüllten den Mond über dem Château . Dieses befand sich seit Jahrhunderten im Besitz ihrer Familie. Äußerlich fast unverändert, stets in Stand gehalten, barg es im Inneren eine wohl abgestimmte Mischung aus altem Bestand und praktischen Errungenschaften der Technik, was Valentine durchaus zu schätzen gelernt hatte. Über Bücher, Tages- und Wissenschaftszeitungen, Radio und Internet hatte sie den Transfer durch die Jahrhunderte erlebt. Zumindest theoretisch. Wirklich in Kontakt gekommen war sie mit dem modernen Leben bislang nicht. Wie würde es sein, sich in den Städten der Gegenwart, zwischen Autos und Geschäften zu bewegen, unter Menschen, die heutzutage völlig anders lebten?
Ihr Herz fühlte sich im Augenblick nicht weniger schwer an als sonst, wenn sie überlegt hatt e, das Château zu verlassen. Am liebsten hätte sie sich jetzt auf dem Absatz umgedreht und wäre wieder zurückgegangen. Was wäre wenn … nein, sie durfte sich nicht länger den Kopf zer brechen , ob sie der Begegnung mit irgendeinem anderen Wesen oder einem fremden Vampir gewachsen war. Wenn nicht jetzt, wann sollte der richtige Zeitpunkt dafür sein?
Kurz entschlossen dematerialisierte sie sich, nahm auf halber Strecke zum Ziel für einige Minuten Gestalt an. Erleichtert stellte sie fest, dass diese Position sich immer noch mitten auf dem Land befand, weit vom nächsten Ort oder einer Straße entfernt , ganz so wie einst. Die Luft war kühl und frisch. In der Ferne glitzerten ein paar Lichter, wahrscheinlich die Fenster eines Bauernhofes, in dem die Nacht noch nicht eingekehrt war. Das Brummen eines Motors war zu hören. In den Jahrhunderten ohne Elektrizität war die Nacht mit der Dunkelheit hereingebrochen, heutzutage machte man die Nacht fast zum Tag.
Ein kleiner Schauer von Glück und Zufriedenheit überflutete die Vampirin, während sie sich um die eigene Achse drehte und ihren Blick schweifen ließ. »Ich schaffe es«, murmelte sie. »Ich habe die Kraft, es zu schaffen. Ich bin darauf vorbereitet.«
Ihre Hand tastete über die Schulter nach dem vertrauten Knauf des Schwertes auf ihrem Rücken, dann dematerialisierte sie sich erneut und stand wenige Augenblicke später mit nun vor Nervosität laut klopfendem Herzen in der Altstadt Kölns. Ihre Zielposition hatte sie aus dem Vergleich eines alten Stadtplans, so wie sie Köln in Erinnerung hatte, auf einen neuen aus dem Internet adaptiert. Es hatte funktioniert.
Niemand nahm Notiz von der Gestalt im schwarzen Mantel, die mit dem Rücken an einer Hauswand lehnte, Gesicht und Haare binnen Sekunden regennass. Die Menschen hasteten vorbei, den Kopf gesenkt, tief in Jacke oder Mantel geduckt. Regenschirme berührten sich, ohne dass jemand sich dafür entschuldigte. Alle hatten es eilig, möglichst bald ins Trockene zu kommen.
Alle – außer Valentine. Der Regen auf ihrem Gesicht erschien ihr wie die Rückkehr ins Leben. Er prickelte auf ihrer Haut wie tausend kleine Nadelstiche . Wie hatte sie es nur so lange ausgehalten, sich in den Mauern des Schlosses zu verbarrikadieren? Sie schluckte. Niemand kannte die Gründe dafür besser als sie selbst , und nur sie konnte die Vergangenheit überwinden und den Dämonen ihrer Erinnerung trotzen. Deswegen war sie hier : ihre Ängste zu überwinden und ihre Aufgabe als Mitglied der Sucher zu vervollkommnen.
All die Jahre hatte sie als Sucher von zuhause gearbeitet und die Schriften studiert, die die anderen Vampire ihr brachten. Niemand hatte Anstoß daran genommen, dass sie nie nach draußen ging. Gut , vielleicht hatte Frédéric Fragen darüber abgew ehrt . Mit der Bearbeitung der Dokumente, die die anderen mitbrachten, war sie hinlänglich beschäftigt gewesen. Von den Orten, an denen diese Hinweise zur Entschlüsselung der Prophezeiung gefunden wurden, wusste sie nur aus Erzählungen. Gesehen hatte sie keinen von ihnen .
Angespannt beobachtete sie, was um sie herum geschah. Wie anders sich die Menschen bewegten, anders als früher zu ihrer Zeit, vor allem die Frauen. Selbstbewusst, aber auch eilig, ohne Rücksicht auf Etikette, viele ohne Begleitung. Auch wenn sie das alles aus den Medien kannte, es wahrhaftig zu
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