Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
Schönreden.
Wilfried konnte nur noch resignieren.
Fußtritte bei Liegestützen, abgefrorene Zehen, willkürliches Anbrüllen, Arrest bei Widerrede,
schlechtes Essen, EK - Bewegung (EK - Entlassungskandidaten, die die jüngeren Soldaten schikanierten), Kloputzen mit der Zahnbürste, Schläge durch die „Kameraden“, Geldverlust durch Einkaufen für die EK auf eigene Rechnung, nicht vorhandene Nichtraucherbereiche, Kleidung nach Befehl und nicht nach Witterung, Hörschäden, sich im Schützengraben vom Panzer überrollen lassen müssen, Härtetest, Häuserkampf mit scharfer Munition - überhaupt, 3% Verluste an Menschenmaterial in Friedenszeiten - die Aufzählung schien endlos zu sein.
Sich drücken, wo es nur ging!
„Ich will es nicht nötig haben, mich drücken zu müssen; ich will es nicht nötig haben, die Vorgesetzten austricksen zu können oder zu müssen,“ so überlegte Wilfried.
„Wollen wir hoffen, daß kein Krieg kommt,“ erwiderte der Vater. Diese Aussage war konsistent, durch und durch, hatte doch der Vater die letzten Kriegsmonate im Jahre 1945 als Soldat knapp überlebt.
Dennoch konnte Wilfried auch pragmatisch denken. Das Leben in der sozialistischen Mangelwirtschaft lehrte frühzeitig, daß für die Bedürfnisbefriedigung genaueste Planung des Privatlebens nötig war. Nur wer rechtzeitig vorsorgte, konnte sich dem allumfassenden Zugriff des Staates ein wenig entziehen.
So früh wie möglich, nämlich noch am 18. Geburtstag, mußte man die Anmeldung für einen Pkw abgeben, damit man ihn mit etwas Glück schon 10 Jahre später in Empfang nehmen konnte. Ein Tag Verzögerung bei der Anmeldung konnte bei der Auslieferung ein weiteres Wartejahr bedeuten.
Natürlich brauchte man dazu auch eine Fahrerlaubnis; die Wartezeit bis zum Beginn des Kurses konnte gleichsam etliche Jahre betragen.
Da traf es sich gut, daß man sich hierfür schon mit 14 Jahren anmelden durfte, was Wilfried auch sogleich nach seinem Geburtstag tat.
Die Fahrerlaubnis für den Lkw, so kalkulierte er, würde vielleicht eher zu erlangen sein, als für den Pkw - und vor allem - mit der Lkw - Fahrerlaubnis hätte er eine Chance, bei der Armee nicht allzu oft zu Fuß gehen zu müssen; vor Witterungsunbilden war man im Führerhaus ebenfalls geschützt!
„Also, wenn ich den Befehl erhalten hätte, zu schießen, ich hätte das Gewehr umgedreht!“
In der Schule war zum wiederholten Male der Nationalsozialismus Thema im Geschichtsunterricht gewesen. In seiner dargestellten Monstrosität war es allen Schülern schier unbegreiflich, wie die Deutschen sich vom Führer hatten verführen lassen können. Warum nur hatten die Kommunisten es seinerzeit nicht an die Macht geschafft?
„Die faschistische Ideologie ist im Vergleich zum Marxismus - Leninismus sehr einfach aufgebaut und erfordert nur wenig Nachdenken,“ hatte Wilfrieds Geschichtslehrerin auf seine Frage hin geantwortet.
„Hm,“ brummte Wilfried unhörbar.
Daß man sich mit derlei Fragen recht rasch auf ideologischem Glatteis wiederfinden konnte, wußte er bereits. Dagegen half nur, die Aussagen der Lehrerin und die Sätze aus dem Lehrbuch wörtlich wiederzugeben, aber auch das immunisierte nicht immer, wie Wilfried bereits im Staatsbürgerkundeunterricht erfahren mußte.
Seine wörtlich wiedergegebenen Zitate aus dem Lehrbuch hatten die Lehrerin zu wütenden Tiraden gegen ihn getrieben - er wußte nicht, wie ihm geschah, als sie ihm zuletzt böse entgegenschleuderte: „Du meinst ja immer nur …!“
Daß man selbst nichts zu meinen hatte, spätestens da hatte es Wilfried verstanden.
Die Geschichtslehrerin schien seine nächsten Gedanken zu erraten:
„Die Bezeichnung ,Nationalsozialismus´ hat mit dem Sozialismus nichts, aber auch gar nicht zu tun. Sie diente den Faschisten lediglich zur Verschleierung ihrer wahren Absichten.“
Der winzige Funke eines geradezu ungeheuerlichen Gedankens in Wilfrieds Hirn - der von Parallelen zwischen Sozialismus und Nationalsozialismus (die Bezeichnungen verrieten sich doch selbst!), er war ausgetreten.
Am selben Abend sah er gemeinsam mit dem Vater eine amerikanische Dokumentation über der „Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion“ mit Burt Lancaster als Kommentator.
Das DDR-Fernsehen hatte ihr den Titel „Die entscheidende Front“ gegeben, im Vorspann aber darauf hingewiesen, daß in den USA, wo vielen Bürgern die entscheidende Rolle der Sowjetunion bei der Niederschlagung des Faschismus nicht bekannt war
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