Vater, Mutter, Tod (German Edition)
entfernten sich immer weiter von der tragenden Säule in der Mitte.
Von wegen, ›er kommt nach seiner Mutter‹.
Wenn Jacqueline ihn so im Profil betrachtete, erinnerte sie Lukas’ Lachen eindeutig an seinen Vater.
Sie flog in der Gondel daneben und freute sich mit ihm. Außer ihnen beiden saß niemand im Kettenkarussell. Im Zeitalter von Höher-Schneller-Weiter hatte sich diese Art von Fahrgeschäften zu einem Dinosaurier entwickelt, der vom Aussterben bedroht war.
Sofern das Schild an der Kasse nicht zu viel versprochen hatte, schwebten sie gemeinsam in einer Höhe von acht Metern über dem Rummel. Doch für die vielen Attraktionen und Sensationen unter ihr hatte Jacqueline keine Sinne.
Nur für Lukas.
Sie spürte ein unsichtbares Band zwischen sich und ihm.
Ein Band, wie es nur eine Mutter zu ihrem Kind spüren kann.
›Deutsch-Amerikanisches Volksfest‹ hatte sie vorhin durch die Glasscheibe des Busses auf einem Plakat gelesen. Kurzentschlossen war sie an der nächsten Haltestelle ausgestiegen und hatte – an der Hand den Jungen – die Fahrtroute gewechselt. Das neue Ziel hatte Clayallee geheißen, der Ort, an dem es seit 1961 alljährlich gefeiert wurde.
Anfangs der Festigung der deutsch-amerikanischen Freundschaft gewidmet, hatte es sich nach und nach zu einem der größten Volksfeste der Hauptstadt entwickelt.
Jacqueline besuchte es allerdings zum ersten Mal. Es verschaffte ihr die Gelegenheit, das Versprechen einzuhalten, das sie Lukas gegeben hatte und ihn damit zu beruhigen.
»Noch mal«, rief Lukas fröhlich, als die Gondeln sich wieder absenkten. Seine Fußspitzen erreichten gerade so den Erdboden.
Ja, sie würde ihm diesen Wunsch erfüllen.
Sie stieg aus, verständigte sich mit einem kurzen Blick mit dem Cowboyhut tragenden Asiaten, der die Fahrgäste einwies, und holte an der Kasse zwei neue Plastikchips. Diese überreichte sie dem Mann und setzte sich dann wieder zu Lukas.
Zweite Runde.
Lukas’ Begeisterung ebbte nicht ab.
Doch als sie ihn nach dem erneuten Halt auf die Füße stellte, schwankte er ein bisschen. Auch sein Gesicht schien ihr blasser. Nach wenigen Augenblicken hatte er sich jedoch wieder unter Kontrolle und marschierte bereits zielstrebig auf einen Stand mit Zuckerwatte zu.
Lukas’ Augen glänzten, als Jacqueline der Verkäuferin die Münzen in die Hand zählte.
»Die pinkfarbene oder die weiße?«
Natürlich entschied er sich für Erstere.
Er biss hinein und zog gleichzeitig mit der Hand den Holzstab von sich. Zuckerfäden zogen sich und rissen schließlich.
Jacqueline und Lukas gingen weiter und passierten eine hölzerne Dekowand mit der aufgemalten Silhouette eines Indianerdorfes. Verklärende Lagerfeuerromantik, klischeehafte Bilder feiernder und jagender Indianer. Lukas besah sich alles ganz genau.
»Wann kommt denn der Papa?«, wollte er wissen, während er einen Indianerjungen musterte, den ein Erwachsener ins Bogenschießen einwies.
»Bald. Wir treffen uns bald mit ihm.«
»Ruf ihn doch noch mal an, wo er bleibt.«
»Ja, das ist eine gute Idee. Aber sieh mal, da ist eine Geisterbahn.«
Sie zeigte nach vorne. Die Verkleidung des Fahrgeschäftes erinnerte an eine verlassene Westernstadt mit dem Eingang zu einer Mine. Knäuel vertrockneter Pflanzen, skelettierte Rinderschädel, ein Sandhaufen, aus dem sich die Hand eines Eingegrabenen reckte. Einst liebevoll gestaltet, blätterte an manchen Stellen bereits die Farbe ab. Als sie bei der Kasse ankamen, übertönte ein Lautsprecher mit Pistolenschüssen, Windgeräuschen, Peitschenknallen und Schreien die Diskoklänge der benachbarten Fahrgeschäfte.
Lukas versuchte verzweifelt, die Buchstaben oben an der Vorderfront zu entziffern.
Seine Lippen bewegten sich, doch man hörte nichts.
»Spooky Mine«, half Jacqueline, »das ist englisch und heißt so viel wie Spukbergwerk. Möchtest du rein?«
Lukas nickte stumm und ehrfürchtig.
»Zwei Karten«, sagte Jacqueline.
»Wie alt ist er denn?«, fragte der Mann an der Kasse.
Aus dem Augenwinkel heraus sah Jacqueline das erforderliche Mindestalter und reagierte geistesgegenwärtig: »Acht!«
Ohne weiter nachzuhaken, händigte ihr der Mann die Karten aus.
»Das stimmt doch gar nicht«, sagte Lukas, als sie zum Einstieg in die Geisterbahnwagen marschierten.
Mit ihren Augen gab sie ihm zu verstehen, dass er schweigen sollte.
Sie reihten sich in die Schlange der Wartenden ein.
Lukas stopfte sich den Rest der Zuckerwatte in den Mund und wusste nicht so
Weitere Kostenlose Bücher