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Vater, Mutter, Tod (German Edition)

Vater, Mutter, Tod (German Edition)

Titel: Vater, Mutter, Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Langer
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der Linie U8 am Alexanderplatz verlassen hatte, war sie gelaufen, einfach nur gelaufen, kreuz und quer. Ohne Sinn, ohne Ziel.
    Die lange Besucherschlange am Fuß des Fernsehturms beachtete sie ebenso wenig wie die vor dem Berliner Dom. Die Schlossbrücke, das Zeughaus, die Oper interessierten sie nicht, das Reiterstandbild Friedrichs des Großen auch nicht. Ihre Beine trugen sie sicher Unter den Linden entlang, ihre Gedanken drehten sich dabei schwerfällig im Kreis.
    René. Paula. Lukas. Thorsten. René.
    Die russische Botschaft. Die britische Botschaft. Das ›Hotel Adlon‹. Das Brandenburger Tor. Das Holocaust-Mahnmal.
    Zwischen all den Touristen, die aufmerksam und staunend die Sehenswürdigkeiten betrachteten, ähnelte sie einem Zombie, der aufrechten Hauptes und gedankenverloren durch Gebäude und Menschen hindurchzusehen schien.
    Jacqueline ignorierte auch das Brennen in ihren Fußsohlen.
    Verglichen mit der nagenden Kälte in ihr, wurde es sowieso zur Lappalie.
    Damals hatte sie mit René auf seinem Bett gelegen, in seinem Jugendzimmer. Sie hatte ihn von sich gestoßen. Wochen vorher hatte sie noch, verliebt bis über beide Ohren, heimlich unterschreiben geübt: Jackie Collin, Jackie Adam, Jacqueline Adam. Sie erinnerte sich noch genau an die Namenszüge. Kraftvoll geschwungen, in ihrer jugendlichen Schrift. Wunderschön. Eine Grundlage zum Träumen vom Zusammensein, von Hochzeit, von Familie.
    Ein Rotstift strich über die Buchstaben und übermalte sie alle bis zur Unkenntlichkeit.
    Es war eine Frauenhand, die den Rotstift führte.
    Zu welchem Zeitpunkt hatte sie die Träume und Visionen ihrer Teenagerjahre beerdigt?
    Mit dem Beginn ihrer Verkäuferinnenlehre?
    Mit der Schwangerschaft?
    Mit der Entscheidung für Thorsten?
    Oder bereits mit dem Abgang vom Gymnasium?
    Die halbwegs guten Noten, die sie zu Schulzeiten erhalten hatte, waren ihr zugeflogen. Keinen Finger hatte sie rühren müssen. Mit ein bisschen mehr Ehrgeiz und Energie hätte sie eine Einser-Schülerin sein können. Alle Lehrer hatten ihr das bestätigt und entsprechende Appelle an sie gerichtet. Jacqueline hatte sich nicht darum geschert, ihr eigenes Ding durchgezogen, sie alle ausgelacht.
    Faules Stück, schalt sie sich, während die Touristenmassen am Gendarmenmarkt zur Seite wichen und eine Schneise für sie bildeten.
    Wo könntest du heute stehen?
    Was könntest du heute sein?
    Ärztin, Biologin, Anwältin.
    Architektin.
    Eine gute Architektin.
    Hochgelobt, gutbezahlt, mit Aussicht auf eine Teilhaberschaft.
    Der Rotstift erschien wieder vor ihrem inneren Auge und deklarierte alle Träume als geplatzt.
    Sie hasste die Frau mit dem Rotstift.
    Locker und lässig stand diese Person da und strich Jacquelines Leben zusammen, mit ihrem anderen Arm untergehakt bei René, der sie anhimmelte.
    Jetzt malte die Frau einen engen Käfig um Jacqueline. Gleich einer Trickfilmfigur boxte Jacqueline in Gedanken gegen die einengenden Striche, doch diese brachen nicht, sie dehnten sich nur und kehrten wieder an ihre Position zurück.
    Ein Junge gesellte sich zu René und Paula: Lukas.
    Er könnte mein eigener Sohn sein, dachte Jacqueline, das Ergebnis von Renés Liebe.
    »René aime Jacqueline. Jacqueline aime René«, flüsterte sie.
    Die Kunden im Kaufhaus Lafayette, das sie eben durchquerte, blickten sie besorgt an.
    »René aime Jacqueline. Jacqueline aime René«, erzählte Jacqueline ihnen.
    Eine Verkäuferin bot ihr ein Parfüm an. Jacqueline kaufte es, ohne darüber nachzudenken.
    Durch eine Glastür verließ sie das Gebäude und trat hinaus auf die Friedrichstraße in den geschäftigen, geschwätzigen Trubel.
    Hätte diese vermaledeite Paula sie nicht mit Champagner vollgefüllt, dann wäre sie nicht zu spät zu Thorsten gekommen.
    Thorsten?
    Unwichtig.
    Thorstens Gesicht verwandelte sich in Renés vertraute Züge.
    Ohne nach links oder rechts zu sehen, überquerte sie die Straße.
    Fahrzeuge hupten und bremsten abrupt.
    Fensterscheiben wurden heruntergelassen.
    Die Fahrer schimpften und tippten sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
    Doch Jacqueline verlangsamte weder ihren Gang, noch beschleunigte sie ihn.
    Als hätte sie den Weg hierher gekannt, erreichte sie zielsicher die Plakette, die neben der imposanten Doppeltür an der Wand davon kündete, wer hier im Bürogebäude residierte: ›Architekturbüro Friedrich Vogt & Simon Hall‹.
    Resolut ergriff Jacqueline nun selbst den Rotstift und in ihrer eigenen Welt wandelte sich der

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