Vater, Mutter, Tod (German Edition)
beiden erreichten die Haltestelle und Jacqueline fühlte sich durch die Leute beobachtet, die auf den Bus warteten. Sie beugte sich zu Lukas hinab und versuchte, ihn zu beruhigen.
»Das wird schon nicht so schlimm, Lukas. Du hast ja noch den Papa – und mich.«
»Aber …« Er schluckte und schnappte nach Luft.
Jacqueline wusste, dass sie keine Aufmerksamkeit erregen durfte.
Sanft strich sie ihm mit der Hand über die Wange.
»Schschscht, alles wird gut. Keine Sorge. Jetzt fahren wir erst mal zu mir.«
Dem Gesichtsausdruck des Jungen war anzumerken, dass er die Situation nicht verstand und es ihm schwerfiel, sie zu verarbeiten.
Er wehrte sich nicht, als er in Jacquelines Schlepptau in den Bus stieg und von ihr auf einen Fenstersitz gedrückt wurde. Sie nahm neben ihm Platz.
Sie mussten noch mit zwei verschiedenen U-Bahnlinien fahren, bis sie Neukölln erreichten.
Während dieser letzten Stunde hatten sie kein Wort mehr gewechselt.
Auf dem Weg zur Fahrstuhltür passte sie prompt die alte Frau Lutter ab.
Neugierige Vettel. Stellt dumme Fragen.
Jacqueline ließ sich auf einen kurzen Wortwechsel ein, während sie Lukas in die Aufzugkabine schob. Sie ärgerte sich über die Alte – und über sich selbst, denn sie hatte Frau Lutter viel mehr verraten, als ihr lieb war.
Als sich die Fahrstuhltür geschlossen hatte, begann Lukas leise zu weinen.
Der Häuptlingsschmuck saß schief auf seinem Kopf, Lukas’ Augen sahen Jacqueline ängstlich und vorwurfsvoll an.
»Ich bin nicht dein Sohn«, widersprach Lukas mit belegter Stimme dem, was Jacqueline eben zu Frau Lutter gesagt hatte.
»Aber du könntest es sein«, sagte Jacqueline freundlich. »Wenn dein Papa die rothaarige Hexe erst mal aus dem Haus geworfen hat, dann könnte ich deine Mama sein.«
»Meine Mama ist keine Hexe«, erwiderte Lukas trotzig.
Jacquelines Tonfall wurde schärfer: »Du wirst schon noch begreifen, wer die bessere Mama von uns beiden ist, und dein Papa auch!«
Als die Aufzugtür zur Seite glitt, griff sie resolut nach Lukas’ Hand und zerrte ihn aus der Kabine.
Mit dem Öffnen der Tür drangen auch die verhassten Hip-Hop-Rhythmen der Nachbarn wieder an ihr Ohr. Dazu gesellte sich Lukas’ immer lauter werdendes Heulen.
Jacqueline beeilte sich, den Jungen in die Wohnung zu schieben, ehe jemand trotz der Musik auf ihn aufmerksam wurde.
Der Geruch von Bier hing in der Luft.
Rasch schloss sie hinter sich die Tür.
Das Bild, das sich ihr bot, ließ sie innehalten.
Jacqueline hatte längst vergessen, was für ein schreckliches Unglück der eingerollte Teppich verheimlichte.
Daneben kniete Thorsten.
Unrasiert, sein Haar zerzaust, unter den Augen dunkle Ringe.
Völlig ausdruckslos starrte er ins Leere und wippte dabei mit dem Oberkörper hin und her, immer und immer wieder.
Jacqueline benötigte einige Sekunden, um zu verarbeiten, was sie sah.
Der Junge an ihrer Hand rührte sich nicht. Er war jetzt still.
Sie ließ ihn los und trat zu ihrem Mann.
Selbst als sie Thorsten sanft an der Schulter anfasste, beendete er seine Bewegung nicht. Sie griff fester zu; endlich hörte er auf zu schaukeln.
Er sah an ihr hoch, erkannte sie und umarmte ihre Hüfte. Als er zu schluchzen begann, strich sie ihm mit den Fingern durchs Haar.
»Es wird alles gut«, flüsterte sie und wollte damit nicht nur ihn beruhigen.
Sie wusste nicht, wie lange sie so verharrten, doch irgendwann vernahm sie eine Bewegung. Lukas sah sie verständnislos an.
»Komm her«, forderte sie ihn auf, und der Junge gehorchte.
Als hätte ihn ein Hypnotiseur in Trance versetzt, näherte er sich den beiden Erwachsenen.
»Sieh nur, der Papa weint. Er wollte uns nicht weh tun. Ihm tut das alles sehr leid, nicht wahr?«
Sie spürte, dass Thorsten nickte.
»Ich wollte das nicht, Jacqueline. Es war ein Unfall.«
Jetzt drehte er seinen Kopf und sah zu Lukas.
»Magst du den Papa nicht in die Arme nehmen?«, fragte Jacqueline.
Lukas’ Gesichtszügen entnahm sie, dass er widersprechen wollte, sich aber nicht getraute.
»Komm näher.«
Zunächst zögerte er, doch schließlich tat er wie geheißen.
»Leg deine Arme um uns.«
Unschlüssig stand Lukas da, rührte sich nicht von der Stelle. Da packte Jacqueline ihn an seinem T-Shirt, zog ihn an sich heran und presste seinen Körper gegen den ihren.
Mit der anderen Hand löste sie einen von Thorstens Armen und legte ihn um den Jungen.
Sie fühlte, dass sie die Situation nun wieder im Griff hatte.
»Jetzt wird alles gut
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