Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Nicht der Hauch einer Wolke trübte den blauen Himmel.
Jacqueline war froh, dass das Bürogebäude klimatisiert war. Bei dieser sommerlichen Hitze im achten Stockwerk direkt unter einem Flachdach zu arbeiten wäre sonst kaum auszuhalten.
Auf der Friedrichstraße herrschte die gewohnte hektische Betriebsamkeit. Männer in Nadelstreifenanzügen und Frauen in Businesskostümen eilten an der Architektin vorbei.
Um den Passanten auf dem für Berliner Verhältnisse knapp bemessenen Bürgersteig nicht im Weg zu stehen, trat sie ein Stück näher ans Gebäude heran. So konnte sie auch den schmalen Streifen Schatten nutzen, den das Haus spendete.
Jacqueline fischte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich die Stirn ab.
Ihre Mutter schätzte Pünktlichkeit ebenso sehr wie sie selbst. Daher vermutete Jacqueline, dass sie nicht lange auf sie würde warten müssen.
Vor dem Trottoir, auf der Straße, herrschte Stop-and-go. Ein Taxifahrer, dem es zu langsam ging, hupte. Aus der Ferne hörte Jacqueline die Sirene eines Polizeiautos.
Sie mochte das Publikum, das in der Friedrichstraße verkehrte. Dem Senat und der privaten Wirtschaft war es nach der Wende zumindest teilweise gelungen, das altehrwürdige, gehobene Flair wiederherzustellen, das der Straßenzug in Vorkriegszeiten ausgestrahlt hatte.
Eine etwas betuchtere Käuferschicht nahm dies dankend an. Abgesehen vom KaDeWe, dessen Umfeld im Laufe der Jahre langsam, aber stetig absank, gab es keine vergleichbar exklusive Gegend in Berlin.
Und sie arbeitete hier! Sie lächelte zufrieden.
Nur wenige Meter entfernt führten Treppen hinunter zum U-Bahnhof Stadtmitte.
Jacqueline wusste später nicht mehr, warum ihr diese Frau aufgefallen war, die dort neben dem Geländer des Bahnhofseingangs stand. Sie unterschied sich durch nichts von all den anderen wohlsituierten Damen, die die Straße entlangflanierten. Wahrscheinlich wurde Jacqueline nur deswegen auf die Fremde aufmerksam, weil diese sie zu beobachten schien.
Die Augen der rothaarigen Unbekannten waren genau auf Jacqueline gerichtet und musterten die Architektin. Selbst als sie die Frau fixierte und ihr damit zu verstehen gab, dass sie dies als unschicklich erachtete, wandte die Fremde ihren Blick nicht ab. Am liebsten wäre Jacqueline hinübergegangen und hätte sie zur Rede gestellt, doch die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihren Gedanken.
»Hallo, Jacqueline.«
Ihre Mutter, Roswitha Collin, stand bereits neben ihr. Jacqueline erkannte sofort, dass sie ein neues Kleid trug. Ihr Make-up war dezent. Dass ihr Haar inzwischen vollständig ergraut war, konnte man noch nicht einmal am Haaransatz entdecken.
Wenn ich selbst mit Ende sechzig noch so gut aussehe, dachte Jacqueline, dann werde ich dankbar sein.
Sie begrüßte ihre Mutter mit einer Umarmung. Die Wangen der beiden Frauen näherten sich, ohne sich zu berühren.
»Wo hast du denn hingestarrt, Liebes?«
»Zu dieser Frau dort drüben.«
Aber als Jacqueline ihrer Mutter die Unbekannte zeigen wollte, war diese verschwunden. Weit konnte sie noch nicht sein; Jacqueline blickte umher, doch sie konnte die Frau nirgends mehr entdecken.
»Ich sehe niemanden.«
»Wahrscheinlich ist sie runter zur U-Bahn.«
»Was war denn mit ihr?«
»Ach, nicht der Rede wert. Lass uns losgehen. Shoppen? Oder lieber etwas essen?«
Roswitha klopfte sich sanft mit der Handfläche auf den Bauch: »Diät.«
»Schadet mir auch nicht«, entgegnete Jacqueline. »Quartier 206? Lafayette?«
»Gerne ins Lafayette, da war ich lange nicht mehr.«
Sie machten sich auf den Weg.
Roswitha betrachtete ihre Tochter. »Du wirkst so gut gelaunt und beschwingt«, sagte sie.
»Ich habe auch allen Grund dazu.«
»Was ist passiert?«
»Rate mal.«
Roswitha benötigte nicht mehr als drei Sekunden des Überlegens: »Das neue Hotel am Flughafen!«
Jacqueline nickte.
»Gratuliere, Liebes. Das hast du dir aber auch verdient. Du hast so hart dafür gearbeitet, so viele Überstunden gemacht.«
Oh ja, das habe ich, dachte sich Jacqueline im Stillen.
Obwohl Roswitha es sich nicht anmerken ließ, spürte Jacqueline, dass ihre Mutter stolz auf sie war. Es sei wichtig, stets die Contenance zu wahren, hatte Roswitha Collin ihre Tochter bereits als kleines Mädchen gelehrt, kaum dass sie laufen und sprechen konnte. Und sie blieb Jacqueline auch heute darin ein leuchtendes Vorbild.
»René war mir eine große Unterstützung. Er hat einige Male früher Feierabend gemacht, um sich um Lukas zu
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