Vater, Mutter, Tod (German Edition)
herumgelungert ist.«
Ihre Mutter reagierte nicht.
Jacqueline wandte sich zu ihr um, doch da war niemand.
»Mutter?«, fragte sie irritiert und drehte sich einmal um sich selbst.
Roswitha Collin blieb verschwunden.
Ein Mann in einem eierschalenfarbenen Anzug blickte Jacqueline stirnrunzelnd an. Dann schüttelte er den Kopf und ging weiter.
Eben war ihre Mutter noch da gewesen; ihre Stimme hallte noch in Jacqueline nach: »Wir treffen uns, wenn du wieder etwas mehr Luft hast.«
Keine zehn Sekunden waren seitdem vergangen. So schnell konnte sich kein Mensch außer Sichtweite bringen, schon gar nicht eine ältere Dame.
Ich müsste sie eigentlich entdecken können, dachte Jacqueline, trotz der vielen Menschen an der Straßenkreuzung vor mir.
Da Jacqueline sie nicht vor dem Lafayette ausfindig machen konnte, musste sie noch drinnen sein. Erneut schritt sie durch die gläsernen Eingangstüren und sah umher. Auch hier: keine Spur von ihrer Mutter.
Das Handy fiel ihr ein. Sie zog es aus der Tasche und tippte die Nummer ihrer Mutter.
»Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben«, ertönte es. »The number you have dialed is not assigned.«
Jacqueline wunderte sich.
Hatte sie sich vertippt?
Vielleicht wegen der Aufregung …
Sie wählte erneut.
Das gleiche Ergebnis.
Ob sie die Zahlen verwechselt hatte?
Das Dilemma mit dem Aufzug kam ihr wieder in den Sinn.
Und dann erinnerte sie sich an ihre Handy-Datenbank.
Um ihr Erinnerungsvermögen zu trainieren, war sie irgendwann dazu übergegangen, häufig benutzte Telefonnummern aus dem Gedächtnis zu wählen.
Sicherheitshalber hatte sie sie aber dennoch abgespeichert.
Sie blätterte das Telefonbuch durch, bis sie ihre Mutter in der Liste erreichte. Sie aktivierte den Eintrag.
»Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben. The number you have dialed is not assigned.«
Hatte ihre Mutter eine neue Nummer und vergessen, es ihr mitzuteilen?
Sie überlegte, wann sie sie das letzte Mal angerufen hatte. Es wollte ihr nicht einfallen. Während sie nachdachte, ging ihr Blick durch die Glastüren nach draußen.
Diese Frau stand immer noch da!
Jacqueline beschloss, sie zur Rede zu stellen, eilte hinaus und geradewegs auf sie zu.
Die Fremde fühlte sich ertappt und rauschte davon. In strammem Schritt lief sie in Richtung Gendarmenmarkt.
Jacqueline beschleunigte; die rothaarige Frau rannte; Jacqueline jetzt ebenfalls.
Zum Gendarmenmarkt hin wurde die Straße noch belebter. Die Unbekannte zwängte sich durch mehrere Touristengruppen hindurch, Jacqueline blieb ihr dicht auf den Fersen. Sie schnappte Sprachfetzen auf: Japanisch, Spanisch, Schwäbisch.
Beinahe hätte sie eine Reiseleiterin umgerannt, die einen geschlossenen Schirm nach oben streckte, als wolle sie den Gott des Regens anrufen. Die Reiseleiterin schimpfte mit tiefer Stimme in einer Jacqueline unbekannten Sprache.
In einer besonders dichten Traube wohlbeleibter amerikanischer Reisender verlor sie die Fremde aus den Augen.
Sie beugte sich nach vorn, stützte sich mit den Händen auf ihre Knie und atmete schwer.
Verwirrt registrierte sie, dass einer der Amerikaner sie fotografierte.
»If It’s Tuesday, This Must Be Belgium«, stand auf seinem XXXL-T -Shirt; zu dem Spruch gesellten sich Flecken seines Mittagessens.
Sie funkelte den Dicken böse an und blickte sich ein letztes Mal suchend um.
Sie entdeckte weder die Fremde noch ihre Mutter.
Zeit, aufzugeben. Sicher klärt sich alles auf, dachte sie und nahm sich vor, ihre Mutter nach Feierabend übers Festnetz anzurufen.
Dann kehrte sie in ihr Büro zurück.
*
Renés silberner Mercedes stand bereits im Carport vor dem Haus, als Jacqueline ihren eigenen roten daneben einparkte.
Zwar waren ihre Gedanken im Laufe des Nachmittags immer wieder zu ihrer Mutter und der Unbekannten zurückgekehrt, doch die Euphorie über den Großauftrag und die daraus resultierende Arbeit hatten für ausreichend Ablenkung gesorgt.
Es war Dienstag; der Tag, an dem Ayse abends immer für die Adams kochte.
Von Ayses Wagen aber war weit und breit nichts zu sehen. Sie schien die Wohnsiedlung bereits verlassen zu haben.
Als Jacqueline die Haustür öffnete, strömte ihr schon der Essensgeruch entgegen. Sie glaubte, Kümmel und auch einen leichten Hauch von Knoblauch wahrzunehmen.
Aus dem ersten Stock hörte sie trippelnde Schritte. Jetzt stieg die Person, die sie verursachte, hastig die Treppe hinunter. Lukas kam auf sie zugerannt.
Jacqueline bückte sich und umarmte den
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