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Vater sein dagegen sehr

Vater sein dagegen sehr

Titel: Vater sein dagegen sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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auch das nicht ganz sicher; denn Margot wich den Gewissensfragen, die Lutz zuweilen an sie stellte, äußerst geschickt aus; und Lutz war klug genug gewesen, seinen Forschungstrieb einzudämmen, als Margot für den einzigen Besuch, den ihre Mutter dem Fischerturm abstattete, das neutrale und völlig ungestempelte Kaffeegeschirr von einer Freundin ausborgte.
    Das war vor einem Jahr gewesen. Seit drei Jahren kannten sie sich. Und seit zwei Jahren besaß Margot den zweiten Schlüssel zum Turm und zu der kleinen Wohnung. Daß die beiden noch nicht verheiratet waren, lag tatsächlich weniger daran, daß sie nicht heiraten wollten, sondern mehr an der Umständlichkeit dieses Unterfangens. Wenn es möglich gewesen wäre, zu sagen: du, heute um halb vier paßt es mir so gut, komm, wir laufen mal rasch 'rüber und heiraten — dann trügen sie beide wahrscheinlich schon seit Jahren die goldnen Ringe. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht steckten hinter diesem Hinauszögern doch andere und tiefere Gründe. Etwa Lutz Venturas Erfolglosigkeit und die damit verbundene sehr unangenehme Überlegung, mit einer recht verwöhnten und anspruchsvollen jungen Frau in die völlige Abhängigkeit der wohlhabenden Schwiegereltern zu geraten. Oder der ewige Zweifel an seinem Talent und an seiner Berufung. Oder sein Verantwortungsbewußtsein. Oder vielleicht auch nur eine gute Portion von Leichtsinn, mit dem er den gegenwärtigen Zustand als gegeben und bequem hinnahm.
    Er stand am Nachmittag dieses trüben Märztages an dem kleinen Herd und wärmte sich die Hände, als er unten die Tür knarren und bald darauf das Klappern von Margots Absätzen auf der Treppe hörte. Er ging ihr nicht entgegen, ja, es war etwas in seiner Haltung und in seinem Ausdruck, als wünsche er diese Stunde des Alleinseins und die Augenblicke der Versunkenheit hinauszuzögern und als wäre ihm ein wenig Unpünktlichkeit von ihr heute lieber gewesen. Sie brachte mit ihrem Waschbärenpelz einen Schwall feuchtkalter Luft mit und balancierte, während sie ihm den Mund zum Kuß und den tropfenden Schirm gleichzeitig entgegenhielt, ein in Seidenpapier gehülltes Kuchenpaket in der linken Hand. Er spannte den nassen Schirm wieder auf und stellte ihn zum Trocknen in die Nähe des Herdes, während Margot das Päckchen vorsichtig auf den Tisch schob und den Pelz von den Schultern fallen ließ.
    »Nicht einmal das Kaffeewasser hast du aufgesetzt!« Sie zog die schwarze Kappe von ihrem kastanienbraunen Haar und strich die Locken, die der Wind über die Schläfen geblasen hatte, mit den Fingern zurück, zarten Fingern mit spitz zugefeilten, blutrot lackierten Nägeln. Er küßte flüchtig ihre Lippen, die sie ihm zum zweitenmal entgegenhob.
    »Du«, sagte er ein wenig atemlos, und seine Augen fixierten einen Punkt, der irgendwo neben ihrem rechten Ohr im Raum zu liegen schien, »ich habe eine Idee, eine Romanidee, einen Stoff, der mich seit gestern abend nicht mehr losläßt. Es kam ganz plötzlich. Auf einmal war er da, und jetzt bohre ich mich in ihn hinein — oder er bohrt sich in mich hinein.«
    »Trotzdem hättest du das Kaffeewasser aufsetzen dürfen. — Rate einmal, was ich mitgebracht habe!«
    »Linzer Torte oder irgendwas anderes.«
    »Irgend etwas anderes!«
    Sie hob mit dem Schürhaken die Ringe vom Herd, füllte den Wasserkessel und stellte ihn aufs Feuer. Ventura kniff die Augen leicht zusammen, als ob er plötzlich kurzsichtig geworden sei.
    »Stell dir die Ausgangssituation einmal vor: Der Frankfurter Flughafen — oder Oberwiesenfeld bei München. Das fahrplanmäßige Flugzeug nach Le Bourget...«
    »Oder Rom«, sagte sie ein wenig spitz; »und da du schon zu faul zum Raten bist: also, es ist Schwarzwälder Kirschtorte!«
    »Also schön, Schwarzwälder Kirschtorte«, murmelte er leicht gereizt, »aber nun paß doch einmal auf!«
    »Bitte, ich bin ganz Ohr.«
    »Also da steht das Flugzeug, startbereit, die Motoren laufen. An Bord: die beiden Piloten, die Stewardess und neun Passagiere. Der zehnte wird erwartet. Er verspätet sich. Er verspätet sich aus Gründen, die mit dem Schicksal dieser neun Passagiere in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Denn diese neun Personen sind eine Schicksalsgemeinschaft, sie sind durch Fäden, die in die Vergangenheit, aber noch stärkere Bindungen, die in die Zukunft reichen, aneinander gekettet, in Liebe und in Haß. — Verstehst du mich, Margot?«
    »Gewiß...«, murmelte sie ein wenig zögernd und schaute ihn an, als entdecke

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