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überzeugt, dass kein anderer Mitarbeiter von Milton Security in der Lage gewesen wäre, sich von einem Frauenhaus einen Auszug aus einem vertraulichen Arztbericht zu beschaffen. Als er sie fragte, wie sie das fertiggebracht hatte, bekam er nur ausweichende Antworten. Sie wollte es sich nicht mit ihren Quellen verderben, behauptete sie. Allmählich dämmerte es Armanskij, dass Lisbeth Salander ihre Arbeitsmethoden weder mit ihm noch mit irgendjemand sonst zu diskutieren gedachte. Das beunruhigte ihn - doch nicht genug, um der Versuchung zu widerstehen, es mit ihr zu probieren.
Er überlegte sich das Ganze ein paar Tage und rief sich die Worte Holger Palmgrens ins Gedächtnis: »Alle Menschen verdienen eine Chance.« Er dachte an seine muslimische Erziehung, die ihn gelehrt hatte, dass es seine Pflicht vor Gott sei, den Ausgestoßenen zu helfen. Er glaubte zwar nicht an Gott und hatte keine Moschee mehr besucht, seit er ein Teenager war, aber Lisbeth Salander wirkte auf ihn wie ein Mensch, der handfeste Hilfe nötig hatte. Und in den vergangenen Jahrzehnten hatte er sich weiß Gott nicht viele derartige Verdienste erworben.
Anstatt sie zu feuern, hatte er Lisbeth Salander zu einer privaten Unterredung bestellt, in der er herauszufinden versuchte, wie dieses anstrengende Mädchen eigentlich tickte. Er wurde in seiner Überzeugung bestärkt, dass Lisbeth Salander unter einer ernsten Störung litt, aber er begann auch zu entdecken, dass sich hinter ihrem komplizierten Wesen ein intelligenter Mensch verbarg. Er fand sie labil und irritierend, stellte jedoch zu seiner großen Verwunderung fest, dass er eine gewisse Sympathie für sie empfand.
Während der folgenden Monate nahm Armanskij sie unter seine Fittiche. Wenn er ganz ehrlich mit sich war, betrachtete er sie als sein kleines soziales Hobbyprojekt. Er stellte ihr einfache Rechercheaufgaben und versuchte ihr Tipps zu geben, wie sie vorgehen sollte. Sie hörte ihm geduldig zu und zog dann los, um seine Aufträge ganz nach ihren eigenen Vorstellungen auszuführen. Er bat den Chef der technischen Abteilung, ihr einen Computer-Grundkurs zu geben. Salander drückte also einen ganzen Nachmittag lang folgsam die Schulbank, bevor der Informatikexperte erstaunt vermeldete, dass sie bereits bessere Grundkenntnisse zu haben schien als die meisten ihrer Kollegen.
Doch Armanskij wurde bald klar, dass Lisbeth Salander trotz vertraulicher Mitarbeitergespräche, Fortbildungsangebote und gewisser Privilegien nicht vorhatte, sich den normalen Bürogepflogenheiten bei Miltons anzupassen. Das stellte ihn vor ein echtes Dilemma.
Einerseits war sie ein ständiger Stein des Anstoßes für ihre Kollegen. Armanskij war sich bewusst, dass er keinem anderen Mitarbeiter erlaubt hätte, zu kommen und zu gehen, wie es ihm passte, sondern ihm in jedem anderen Fall ein Ultimatum gestellt hätte, sein Verhalten zu ändern. Er ahnte auch, dass Lisbeth Salander auf ein Ultimatum oder Kündigungsdrohungen nur mit einem Achselzucken reagieren würde. Er war also gezwungen, sie entweder loszuwerden oder zu akzeptieren, dass sie eben nicht so funktionierte wie andere Menschen.
Ein noch größeres Problem für Armanskij bestand darin, dass er aus seinen eigenen Gefühlen für die junge Frau nicht schlau wurde. Sie war wie ein unangenehmer Juckreiz, störend, aber auch verlockend. Es war keine sexuelle Anziehung, zumindest sah Armanskij das so. Die Frauen, denen er nachlief, waren blond und kurvig und hatten volle Lippen, die seine Fantasie beflügelten. Außerdem war er seit zwanzig Jahren mit einer Finnin verheiratet, die auch noch in ihren mittleren Jahren all diese Bedürfnisse mehr als erfüllte. Er war niemals untreu gewesen, na ja, vielleicht hatte es da mal ein, zwei Situationen gegeben, die seine Frau hätte missverstehen können, aber ihre Ehe war glücklich, und er hatte zwei Töchter in Salanders Alter. Jedenfalls war er nicht interessiert an flachbrüstigen Mädchen, die man von Weitem mit schmächtigen Jungs verwechseln konnte. Das entsprach nicht seinem Stil.
Trotzdem hatte er angefangen, sich bei ungehörigen Tagträumen zu ertappen, und er musste sich eingestehen, dass ihn ihre Gegenwart nicht ganz kaltließ. Aber die eigentliche Anziehungskraft lag Armanskijs Meinung nach darin, dass Salander wie ein fremdes Wesen für ihn war. Er hätte sich genauso gut in ein Gemälde oder in eine Nymphe aus einer griechischen Sage verlieben können. Salander stand für ein unwirkliches
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