Verblendung
Leben, das ihn faszinierte, aber das er nicht teilen konnte - und das mit ihr zu teilen sie ihm verbot.
Einmal saß Armanskij in einem Straßencafé auf dem Stortorget in Gamla Stan, als Lisbeth Salander heranschlenderte und sich an einen Tisch am entgegengesetzten Ende der Terrasse setzte. Sie war in Begleitung dreier Mädchen und eines Jungen, die alle ähnlich gekleidet waren. Armanskij hatte sie neugierig betrachtet. Sie schien genauso reserviert wie im Büro, lachte jedoch tatsächlich über eine Bemerkung, die ein Mädchen mit purpurfarbenen Haaren gemacht hatte.
Armanskij fragte sich, wie Salander reagieren würde, wenn er eines Tages mit grünen Haaren zur Arbeit erschien, in Baggie-Pants und einer beschmierten nietenbesetzten Lederjacke. Würde sie ihn als ihresgleichen betrachten? Vielleicht - sie schien ihre ganze Umgebung mit der Einstellung »not my business« zu akzeptieren. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie ihn einfach auslachen würde.
Sie hatte mit dem Rücken zu ihm gesessen, hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht und war sich seiner Anwesenheit anscheinend gar nicht bewusst gewesen. Er fühlte sich von ihrer Gegenwart außerordentlich irritiert, und als er nach einer Weile aufgestanden war, um sich unbemerkt fortzuschleichen, hatte sie sich plötzlich umgedreht und ihn angesehen, als hätte sie ihn schon die ganze Zeit auf ihrem Radarschirm gehabt. Ihr Blick traf ihn so unvermutet, dass er sich fast wie ein Angriff anfühlte. Armanskij hatte so getan, als hätte er sie nicht gesehen, und raschen Schrittes das Lokal verlassen. Sie folgte ihm mit den Augen, und erst als er um die nächste Ecke gebogen war, brannte ihm ihr Blick nicht mehr auf dem Rücken.
Sie lachte so gut wie nie. Dennoch glaubte Armanskij eine wachsende Ungezwungenheit in ihrem Verhalten zu bemerken. Sie hatte, gelinde gesagt, einen trockenen Humor, der manchmal in ein schiefes ironisches Lächeln mündete.
Zuweilen fühlte Armanskij sich von ihrem Mangel an emotionalem Feedback so provoziert, dass er sie packen und schütteln wollte, mit Gewalt unter ihre Schale dringen und sich ihre Freundschaft oder zumindest ihren Respekt erwerben wollte.
Einmal - sie arbeitete seit neun Monaten für ihn - hatte er versucht, mit ihr über diese Gefühle zu sprechen. Das war auf der Weihnachtsfeier an einem Dezemberabend, und ausnahmsweise war er nicht mehr ganz nüchtern gewesen. Es war nichts Ungehöriges vorgefallen, er hatte ihr nur zu sagen versucht, dass er sie wirklich mochte. Vor allem hatte er ihr erklären wollen, dass sie den Beschützerinstinkt in ihm weckte und sich, sollte sie einmal Hilfe brauchen, stets vertrauensvoll an ihn wenden konnte. Er hatte sogar Anstalten gemacht, sie zu umarmen. In aller Freundschaft, versteht sich.
Sie hatte sich aus seiner unbeholfenen Umarmung befreit und das Fest verlassen. Danach war sie nicht mehr zur Arbeit erschienen und hatte auch nicht auf Anrufe reagiert. Armanskij empfand ihre Abwesenheit als Qual, fast wie eine persönliche Bestrafung. Er konnte mit niemandem über seine Gefühle sprechen, mit seiner Frau am allerwenigsten, und zum ersten Mal war ihm mit erschreckender Klarheit aufgegangen, was für eine verstörende Macht Lisbeth Salander über ihn gewonnen hatte.
Drei Wochen später, als Armanskij an einem Januarabend zu fortgeschrittener Stunde Überstunden schob, um den Jahresabschlussbericht durchzusehen, war Salander zurückgekehrt. Leise wie ein Gespenst kam sie in sein Büro, und plötzlich wurde er gewahr, dass sie im Dunkeln bei der Tür stand und ihn musterte. Er hatte keinen Schimmer, wie lange sie schon dort gestanden hatte.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie. Sie zog die Tür hinter sich zu und hielt ihm eine Tasse Kaffee von der Espressomaschine in der Kantine entgegen. Stumm nahm er die Tasse entgegen und verspürte sowohl Erleichterung als auch Angst, als sie sich in den Besuchersessel setzte und ihm in die Augen sah. Dann stellte sie die verbotene Frage, und zwar so, dass er sie weder spaßhaft abtun noch ausweichen konnte.
»Dragan, sind Sie scharf auf mich?«
Armanskij saß wie gelähmt da, während er verzweifelt nach einer Antwort suchte. Zunächst hatte er alles abstreiten wollen. Aber dann hatte er ihren Blick gesehen und begriffen, dass sie zum allerersten Mal eine persönliche Frage stellte. Eine ernst gemeinte, und wenn er sie abtat, käme das für Salander einer persönlichen Beleidigung gleich. Sie wollte mit ihm sprechen, und er
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