Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Titel: Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
ihrer Ideen, ihrer Träume, ihrer
Ideale. Vor allem aber die Opfer von Menschen, die nicht reif und nicht bereit waren, neue Gedanken anzunehmen. Man kann einem Mann wie John tausend Fehler vorwerfen, aber ein Land wie England hat Schlimmeres verbrochen — korrupt, gierig, aufgeblasen und intolerant, wie es ist. Beherrscht von Männern und Frauen, die eher ihre Seelen zum Teufel gehen lassen, als auch nur um Haaresbreite von ihren jahrhundertealten, kostbaren Privilegien Abstand zu nehmen. Aber, ach Joanna, ich habe trotzdem Heimweh! Ich liebe England, als hätte es Louisiana nie gegeben und als sei ich nie etwas anderes gewesen als Deine Schwester, die mit Dir in Heron Hall lebte und über die Klippen von Hunstanton spazierenging. Ich denke an das fahle, gelbliche Gras in den Dünen, an die Schreie der Möwen, an den salzigen Wind. Und ich denke an London, an die alte, graue Themse und an die schmalen Gassen, in die oft nur ein einziges Mal am Tag ein hauchfeiner Sonnenstrahl fällt und das Kopfsteinpflaster aufleuchten läßt. Ich denke an die uralten, schiefen Häuser, an die verhärmten Gestalten, die davor sitzen, an die Kutschen, die durch die Gassen rumpeln, an die lachenden, schreienden, bunten Menschen im Hyde Park mit ihren Zylindern und mit den Federn im Haar, mit ihrer Eleganz und ihrer Verkommenheit. Ich denke an Covent Garden, an Whitehall, an Westminster und an St. Paul’s. Ich denke an all die vielen kleinen englischen Kirchen, von denen jede einzelne aussieht wie eine normannische Burg und die in verwunschenen Gärten stehen, für die es keine Zeit zu geben scheint. Es ist bestimmt das wundervollste Land auf der Erde, aber hochmütig und nachtragend natürlich. Es nimmt seine gefallenen Kinder niemals wieder auf.
    Ich habe darüber nachgedacht, wie seltsam es ist, daß Du gerade hier warst, als Bonapartes Epoche so fürchterlich und blutig zu Ende ging. Ich jedenfalls weiß bestimmt, daß ich keine Sekunde dieser Tage jemals werde vergessen können. Und ich schäme mich noch nachträglich für die unzähligen Stunden, die ich damit verbrachte, völlig unwesentlichen Kümmernissen nachzuweinen, die doch gar nichts sind, verglichen mit dem, was hier geschehen ist. Ich denke, wir haben uns beide ein leichtes
und schönes Leben erträumt und haben dann oft panisch reagiert, wenn es nicht so leicht wurde. Wie dumm, denn nun haben wir ja gesehen, wozu das Leben und das Schicksal fähig sind, und wir müssen wohl beide bekennen, daß wir im Grunde sehr gut behandelt worden sind.
    Wobei ich leider sicher bin, daß diese Anwandlung von Weisheit in mir ihre Kraft verlieren wird, daß sie im gleichen Maß schwindet, wie dort draußen Bäume nachwachsen, die Felder neue Saat tragen, aus den Ruinen Häuser entstehen und die Gefallenen vergessen werden. Die Zeit nimmt eben allem Erlebten seine Schärfe, und manchmal ist das ja auch gut und die einzige Rettung für uns.
    Du warst also hier, in Brüssel, in Quatre Bras, gerade jetzt, und es ist deshalb eigenartig, weil es wie ein Abschied aussah, der zusammentraf mit Napoleons Ende, und weil wir uns an dem Tag begegneten, als das Zeitalter von Revolution und Kriegen begann, am 14. Juli 1789, als sie in Paris die Bastille stürmten und jene Ideen von Europa Besitz ergriffen, die Onkel Phillip zu seinen schrecklichen Wutanfällen hinrissen und ihm sicher einige graue Haare wachsen ließen. Wenn wir damals, an jenem Tag, geahnt hätten, was aus alldem entstehen würde, daß die Epoche der Guillotine begonnen hatte und die eines größenwahnsinnigen Eroberers, uns hätte es geschaudert. Auch wenn wir gewußt hätten, was dies alles für unser Leben bedeuten würde! Aber das meinte ich vorhin, als ich schrieb, John und ich seien Opfer einer Zeit. Wir sollten vielleicht nie zu streng mit uns sein. Wir müssen unsere Taten auch an den Umständen messen, in die wir hineingeboren wurden.
    Liebste Joanna, ich möchte nicht, daß dieser Brief ein Abschied ist. Ich will nicht glauben, daß wir einander niemals wiedersehen. Auf jeden Fall werde ich Dir schreiben — und auf Deine Briefe warten, in Schloß Sevigny oder sonstwo in Europa, wenn John und ich durch all die zauberhaften, schönen, prachtvollen Städte des Kontinents reisen, uns gegenseitig versichern, wie glücklich wir doch seien, sie sehen zu dürfen, und dabei heimlich, ohne es einander zu sagen, von London träumen.

    Ich umarme Dich und wünsche Dir alles Glück, Deine Elizabeth. «
    Joanna ließ den Brief

Weitere Kostenlose Bücher