Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Petrowitsch ... ich ließ mich hinreißen«, begann Raskolnikow, der die Fassung schon so weit gewonnen hatte, daß er den unüberwindlichen Wunsch empfand, seine Unbefangenheit zur Schau zu stellen.
»Macht nichts, macht nichts«, erwiderte Porfirij fast freudig. »Auch ich selbst ... Einen giftigen Charakter habe ich, ich gestehe es, ich gestehe es! Wir sehen uns aber noch. So Gott will, sogar sehr! ...«
»Und werden einander endgültig erkennen?« fiel Raskolnikow ein.
»Und werden einander endgültig erkennen«, bestätigte Porfirij Petrowitsch, die Augen zusammenkneifend und ihn sehr ernst anblickend. »Und jetzt zum Namenstag?«
»Zu einer Beerdigung.«
»Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie aber Ihre Gesundheit, Ihre Gesundheit ...«
»Ich aber weiß gar nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!« entgegnete Raskolnikow, der schon die Treppe hinunterging, sich aber plötzlich wieder zu Porfirij Petrowitsch umwandte. »Ich würde Ihnen mehr Erfolg wünschen, aber Ihr Amt ist doch gar zu komisch!«
»Warum ist es denn komisch?« fragte Porfirij Petrowitsch, der sich schon auch umgewandt hatte, sofort die Ohren spitzend.
»Aber gewiß! Diesen armen Mikolka haben Sie doch sicher ordentlich gequält, auf Ihre psychologische Manier gepeinigt, bis er mit dem Geständnis kam! Tag und Nacht haben Sie ihm wohl zugeredet: ›Du bist der Mörder, du bist der Mörder! ...‹ Und jetzt, wo er es gestanden hat, werden Sie ihn wohl wieder auf die Folter spannen: ›Du lügst, du bist nicht der Mörder! Kannst nicht der Mörder sein! Es sind nicht deine eigenen Worte, die du sprichst!‹ Ist denn nach alledem Ihr Amt nicht komisch?«
»He-he-he! Und Sie haben es schon bemerkt, wie ich eben sagte: ›Es sind nicht seine eigenen Worte, die er spricht‹?«
»Warum soll man es nicht merken?«
»He-he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Ein lebhafter Geist! Und Sie treffen immer die komischste Seite ... he-he! ... Man sagt doch, daß unter den Schriftstellern diese Eigenschaft bei Gogol am stärksten ausgeprägt war?«
»Ja, bei Gogol.«
»Richtig, bei Gogol ... auf angenehmes Wiedersehen.«
»Auf angenehmes Wiedersehen ...«
Raskolnikow ging direkt nach Hause. Er war dermaßen konfus und verwirrt, daß er, als er schon zu Hause war und sich aufs Sofa warf, eine Viertelstunde sitzen mußte, um auszuruhen und seine Gedanken zu sammeln. An Nikolai versuchte er nicht mal zu denken: er fühlte sich wie niedergeschmettert: er fühlte, daß im Geständnis Nikolais etwas Unbegreifliches lag, etwas Erstaunliches, das er jetzt unmöglich erfassen konnte. Doch das Geständnis Nikolais war eine unumstößliche Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache wurden ihm auch sofort klar: die Lüge mußte unbedingt mal ans Licht kommen, und dann würde man wieder ihn vornehmen. Aber bis dahin war er wenigstens frei und mußte unbedingt etwas für sich unternehmen, denn die Gefahr war unvermeidlich.
Doch in welchem Maße? Die Lage begann sich zu klären. Als er sich der ganzen Szene bei Porfirij, die er vorhin erlebt hatte, im Rohen , im allgemeinen Zusammenhange erinnerte, mußte er noch einmal erschauern. Natürlich kannte er noch nicht alle Absichten Porfirijs und konnte nicht alle seine Berechnungen von vorhin durchschauen. Doch ein Teil des Spiels war nun aufgedeckt, und gewiß konnte niemand besser als er verstehen, wie gefährlich für ihn dieser »Zug« im Spiele Porfirijs war. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten können . Da Porfirij seinen krankhaften Charakter kannte und ihn auf den ersten Blick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte, ging er vielleicht allzu entschlossen, doch mit fast unfehlbarer Sicherheit vor. Allerdings hatte sich Raskolnikow schon früher stark kompromittiert, aber zu Tatsachen war es doch nicht gekommen; alles war nur noch relativ. Faßt er aber jetzt alles wirklich richtig auf? Irrt er auch nicht? Auf welche Resultate ging Porfirij heute aus? Hatte er für heute wirklich etwas vorbereitet? Was denn? Hatte er heute wirklich auf etwas gewartet, und worauf? Wie würden sie sich heute getrennt haben, wenn nicht die unerwartete Katastrophe mit Nikolai dazwischengekommen wäre?
Porfirij hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt, wenn auch mit einem gewissen Risiko, aber er hatte es aufgedeckt: wenn er noch mehr gehabt hätte (glaubte Raskolnikow), so würde er auch das aufgedeckt haben. Was war das für eine »Überraschung«? War es nur eine Verhöhnung? Hatte das
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