Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
etwas zu bedeuten oder nicht? Konnte etwas dahinter stecken, was auch nur irgendwie einer Tatsache, einer positiven Anklage ähnlich sähe? Der Mann von gestern? Ist der wieder in die Erde versunken? Wo war er heute? Wenn Porfirij überhaupt etwas Positives in Händen hat, so kann es nur mit dem Mann von gestern zusammenhängen ...
Er saß auf dem Sofa, den Kopf tief gesenkt, die Ellbogen in die Knie gestemmt, das Gesicht in die Hände vergraben. Das nervöse Zittern am ganzen Körper dauerte an. Schließlich stand er auf, nahm die Mütze, dachte eine Weile nach und ging zur Tür.
Er hatte ein Vorgefühl, daß er wenigstens diesen ganzen Tag fast ganz sicher sein durfte. Plötzlich erfüllte ein beinahe freudiges Gefühl sein Herz. Er wollte so schnell als möglich zu Katerina Iwanowna. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu spät, doch zum Totenmahl konnte er noch zurechtkommen, und dort würde er sofort Ssonja wiedersehen.
Er blieb stehen, dachte nach, und ein schmerzvolles Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
»Heute! Heute!« wiederholte er vor sich hin. »Ja, heute! So muß es ...«
Kaum wollte er die Tür öffnen, als sie plötzlich von selbst aufging. Er fuhr zusammen und prallte zurück. Die Tür ging langsam und allmählich auf, und plötzlich zeigte sich eine Gestalt: es war der gestrige Mann von unter der Erde .
Der Mann blieb an der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und trat einen Schritt ins Zimmer. Er sah genau so aus wie gestern, hatte die gleiche Figur und die gleiche Kleidung, aber in seinem Gesicht und Blick war eine große Veränderung vorgegangen: er blickte jetzt traurig drein und seufzte, nachdem er eine Weile dagestanden hatte, schwer auf. Es fehlte nur, daß er eine Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur Seite neigte, um ganz wie ein altes Weib auszusehen.
»Was wollen Sie?« fragte Raskolnikow, mehr tot als lebendig.
Der Mann schwieg und verneigte sich plötzlich tief, fast bis zur Erde. Jedenfalls berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand.
»Was wollen Sie?« rief Raskolnikow aus.
»Ich habe mich an Ihnen vergangen«, sagte leise der Mann.
»Womit?«
»Mit bösen Gedanken.«
Beide sahen einander an.
»Es ärgerte mich. Als Sie damals hinkamen, vielleicht im Rausche, und die Hausknechte aufs Revier schickten und nach dem Blute fragten, ärgerte es mich, daß man Sie gehen ließ und für einen Betrunkenen hielt. Ich ärgerte mich so, daß ich den Schlaf verlor. Und da ich mir Ihre Adresse merkte, kam ich gestern her und fragte nach ...«
»Wer kam her«, unterbrach ihn Raskolnikow, dem nun ein Licht aufging.
»Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.«
»Wohnen Sie in jenem Hause?«
»Ja, im selben Hause, und ich stand damals im Tore mit den andern, haben Sie es vergessen? Ich betreibe auch mein Handwerk dort. Ich bin Kürschner und Kleinbürger, nehme die Arbeit ins Haus ... und noch mehr ärgerte ich mich ...«
Und Raskolnikow erinnerte sich plötzlich der ganzen Szene von vorgestern im Tore; er erinnerte sich, daß außer den Hausknechten dort damals noch einige Menschen gestanden hatten, auch Frauen. Er entsann sich einer Stimme, die vorschlug, ihn gleich aufs Revier zu führen. Auf das Gesicht desjenigen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte es auch jetzt nicht wieder, aber er erinnerte sich noch, daß er ihm sogar etwas geantwortet und sich nach ihm umgewandt hatte ...
So fand also der ganze Schrecken von gestern seine Lösung. Am entsetzlichsten war der Gedanke, daß er wegen eines so nichtigen Umstandes beinahe zugrundegegangen wäre, sich beinahe zugrundegerichtet hätte. Folglich wußte dieser Mensch außer des Versuches, die Wohnung zu mieten, und des Gesprächs über das Blut nichts zu erzählen. Folglich wußte auch Porfirij nichts außer diesem Fieberwahn und der Psychologie , die zwei Enden hat, nichts Positives, keine Tatsachen. Wenn folglich keine Tatsachen mehr auftauchen (und es dürfen keine auftauchen, sie dürfen nicht, sie dürfen nicht!), so ... was kann man ihm dann anhaben? Womit kann man ihn endgültig überführen, selbst wenn man ihn verhaftet? Folglich hat Porfirij das von der Wohnung erst jetzt, soeben erfahren und hat bisher nichts gewußt.
»Haben Sie es heute dem Porfirij gesagt ... daß ich in die Wohnung kam?« rief er aus, durch den plötzlichen Einfall überrascht.
»Was für einem Porfirij?«
»Dem Untersuchungsrichter.«
»Ich hab' es ihm gesagt. Die
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