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Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)

Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)

Titel: Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij
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sie eine Gabe für das ganze Zuchthaus: Kuchen und Brezeln. Aber allmählich hatten sich zwischen ihnen und Ssonja gewisse nähere Beziehungen angeknüpft: sie schrieb für sie Briefe und schickte sie zur Post. Ihre Verwandten beiderlei Geschlechts, die in die Stadt kamen, ließen auf deren Wunsch bei Ssonja Sachen und sogar Geld für sie zurück. Ihre Frauen und Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zur Arbeit kam, um Raskolnikow zu sehen, oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen, begegnete, nahmen sie alle die Mützen ab und grüßten sie. »Mütterchen, Ssofja Ssemjonowna, unsere Mutter, du Zarte und Barmherzige!« sagten diese groben gebrandmarkten Zuchthäusler zu diesem kleinen schmächtigen Geschöpf. Sie lächelte und nickte ihnen zu, und sie alle sahen es gern, wenn sie ihnen zulächelte. Sie liebten auch ihren Gang, wandten sich um, um zu sehen, wie sie ging, und lobten sie; sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten gar nicht mehr, wofür sie noch zu loben. Sie kamen auch zu ihr, um sich von ihr in Krankheitsfällen behandeln zu lassen.
    Raskolnikow verbrachte das Ende der Fastenzeit und die Osterwoche im Spital. Während der Genesung erinnerte er sich seiner Träume, die er im Fieber gehabt hatte. Während seiner Krankheit träumte er, daß die ganze Welt verdammt sei, irgendeiner schrecklichen, unerhörten und noch nie dagewesenen Seuche zum Opfer zu fallen, die aus Asiens Tiefen über Europa kam. Alle sollten umkommen, mit Ausnahme einiger sehr weniger Auserwählter. Es kamen neue Trichinen auf, mikroskopische Wesen, die sich in den Körpern der Menschen einnisteten. Diese Geschöpfe waren aber mit Verstand und Willen begabte Geister. Die Menschen, in die sie eingedrungen waren, wurden sofort zu Besessenen und Wahnsinnigen. Noch niemals, niemals hatten sich die Menschen für so klug und unwankbar in ihrer Wahrheit gehalten wie diese Angesteckten. Noch niemals hatten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Schlüsse, ihre sittlichen Überzeugungen und Glaubenssätze für unerschütterlicher gehalten. Ganze Siedlungen, ganze Städte und Völker wurden angesteckt und rasten wie Wahnsinnige. Alle waren in Unruhe und verstanden einander nicht; ein jeder glaubte, daß er allein die Wahrheit fasse, und quälte sich beim Anblick der anderen, schlug sich vor die Brust, weinte und rang die Hände. Sie wußten nicht, wen und wie man richten sollte, was als gut und als böse anzusehen sei. Sie wußten nicht, wen anzuklagen und wen freizusprechen. Die Menschen töteten einander in einer eigentümlichen, sinnlosen Wut. Sie zogen als ganze Armeen gegeneinander, aber die Armeen begannen schon auf dem Marsche einander zu zerfleischen, die Reihen gerieten durcheinander, die Krieger fielen übereinander her, stachen und hieben, bissen und fraßen einan der auf. In den Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke: man rief alle zusammen, aber wer rief und wozu er rief, das wußte niemand, und alle waren in Unruhe. Sie gaben die gewöhnlichsten Handwerke auf, weil jeder seine eigenen Gedanken und Verbesserungen in Vorschlag brachte, und sie konnten sich nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hier und da liefen Menschen zu Haufen zusammen, einigten sich über etwas, schwuren, sich nicht mehr zu trennen, – begannen aber sofort etwas ganz anderes zu tun, als was sie soeben beschlossen hatten, einander anzuklagen, sich zu prügeln und zu morden. Es kamen Feuersbrünste und eine Hungersnot. Alle und alles ging zugrunde. Die Seuche griff um sich und verbreitete sich immer weiter und weiter. Bloß einige Menschen in der ganzen Welt konnten sich retten: es waren die Reinen und Auserwählten, ausersehen, ein neues Leben und ein neues Menschengeschlecht zu begründen, die Erde zu erneuern und zu reinigen, aber niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte und Stimmen gehört.
    Raskolnikow quälte es, daß dieser sinnlose Fiebertraum so traurig und schmerzlich in seinen Erinnerungen fortlebte, daß der Eindruck dieser Träume so lange nicht weichen wollte. Die zweite Woche nach Ostern hatte schon begonnen; es waren warme, heitere Frühlingstage; in der Sträflingsabteilung des Spitals standen die Fenster offen (vergitterte Fenster, unter denen ein Wachtposten auf und ab ging). Ssonja hatte ihn während seiner Krankheit bloß zweimal besuchen können; man mußte jedesmal um Erlaubnis bitten, und das war schwer. Sie kam aber oft auf den Hof des Spitals,

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