Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
ihn aufgedeckt. Der wahre Mörder hat diese Ohrringe fallen lassen. Als Koch und Pestrjakow klopften, saß der Mörder oben in der Wohnung eingeschlossen. Koch machte die Dummheit und ging hinunter; in diesem Augenblick sprang der Mörder heraus und lief gleichfalls hinunter, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakow und dem Hausknecht in die leere Wohnung, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Mikolai herausgelaufen waren; als der Hausknecht und die anderen hinaufgingen, stand er hinter der Tür, wartete, bis ihre Schritte verhallten, und ging dann ganz ruhig hinunter, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Mikolai auf die Straße hinausgelaufen waren und alle sich verzogen hatten, so daß kein Mensch mehr im Torweg blieb. Vielleicht sah man ihn auch, merkte ihn sich aber nicht: es gehen doch genug Menschen vorbei! Die Schachtel ließ er aber aus der Tasche fallen, als er hinter der Tür stand; er merkte nicht, daß er sie hat fallen lassen, weil er an andere Dinge zu denken hatte. Die Schachtel ist aber ein klarer Beweis dafür, daß er gerade hinter der Tür gestanden hat. Das ist der ganze Witz!«
»Sehr schlau! Nein, Bruder, das ist zu schlau. Das ist schlauer als alles!«
»Aber warum denn, warum denn?«
»Weil alles gar zu genau ineinander paßt ... und die Fäden so fein verschlungen sind ... wie im Theater.«
»Ach Gott!« begann Rasumichin, aber in diesem Augenblick ging die Tür auf, und herein trat eine neue Person, die allen Anwesenden unbekannt war.
V
Es war ein nicht mehr junger Herr, stattlich und steif, mit einem Gesichtsausdruck, als sei er auf der Hut und als ekle er sich. Er begann damit, daß er in der Tür stehenblieb und mit einem Erstaunen, das er in einer geradezu verletzenden Weise nicht verhehlte, um sich blickte, als fragte er mit den Augen: »Wohin bin ich denn geraten?« Mißtrauisch, sogar mit dem affektierten Ausdruck einer gewissen Angst, fast eines Beleidigtseins, betrachtete er die enge und niedrige »Schiffskajüte« Raskolnikows. Mit dem gleichen Erstaunen richtete er dann seine Blicke auf Raskolnikow selbst, der nicht angekleidet, zerzaust und ungewaschen auf seinem schmutzigen elenden Sofa lag und ihn ebenso unverwandt musterte. Darauf begann er ebenso bedächtig die zerzauste, unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der ihm seinerseits frech und fragend gerade in die Augen blickte, ohne sich vom Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine Minute, und schließlich erfolgte, wie es auch zu erwarten war, ein kleiner Dekorationswechsel. Als der Gast nach einigen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen wohl eingesehen hatte, daß in dieser Schiffskajüte durch übertrieben stolze Haltung nichts auszurichten war, wurde er etwas weicher und versetzte, sich an Sossimow wendend, höflich, doch nicht ohne Strenge, jede Silbe seiner Frage betonend:
»Rodion Romanowitsch Raskolnikow, Student oder ehemaliger Student?«
Sossimow machte eine langsame Bewegung und hätte vielleicht geantwortet, wenn ihm nicht Rasumichin, an den man sich gar nicht gewandt hatte, sofort zuvorgekommen wäre.
»Hier liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?«
Dieses familiäre »Und was wollen Sie?« machte auf den steifen Herrn einen sehr peinlichen Eindruck; fast hätte er sich zu Rasumichin umgewandt, beherrschte sich aber noch rechtzeitig und wandte sich schnell wieder an Sossimow.
»Da ist Raskolnikow!« sagte Sossimow langsam und undeutlich mit einem Wink auf den Kranken; dann gähnte er, wobei er seinen Mund ungewöhnlich weit aufriß und ihn dann ungewöhnlich lange in diesem Zustande behielt. Dann griff er sehr langsam in seine Westentasche, holte eine riesengroße dicke goldene Uhr mit zwei Deckeln hervor, öffnete sie und begann sie ebenso langsam wieder in die Tasche zu stecken.
Raskolnikow selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und blickte unverwandt, wenn auch gedankenlos, den Besucher an. Sein Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume auf der Tapete losgerissen hatte, war ungewöhnlich blaß und drückte einen außerordentlichen Schmerz aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation überstanden oder als hätte man ihn von einer Tortur befreit. Doch der eingetretene Herr erregte in ihm erst immer mehr und mehr Aufmerksamkeit, dann Erstaunen, dann Mißtrauen und sogar etwas wie Angst. Und als Sossimow mit einem Wink auf ihn sagte: »Da ist Raskolnikow«, setzte er sich
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