Verbrechen und Strafe
fiel ihm plötzlich vom Herzen; vielleicht war es auch nicht die bedrückende Todesangst allein; in diesem Augenblick empfand er wohl kaum etwas. Es war die Erlösung von einem anderen, viel schmerzvolleren und finsteren Gefühl, das er in seiner ganzen Kraft wohl auch selbst nicht hätte bestimmen können.
Er ging auf Dunja zu und nahm sie leicht mit der Hand um die Taille. Sie widersetzte sich ihm nicht, zitterte aber am ganzen Leibe wie ein Espenblatt und sah ihn mit flehenden Augen an. Er wollte ihr etwas sagen, aber seine Lippen verzogen sich nur, und er konnte keinen Ton hervorbringen.
»Laß mich!« sagte Dunja flehend.
Swidrigailow fuhr zusammen: dieses »du« klang schon ganz anders als das von vorhin.
»Du liebst mich also nicht?« fragte er leise.
Dunja schüttelte verneinend den Kopf.
»Und ... kannst nicht? ... Niemals?« flüsterte er voll Verzweiflung.
»Niemals!« flüsterte Dunja.
Es verging ein Augenblick eines schrecklichen stummen Kampfes in Swidrigailows Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog er seine Hand zurück, wandte sich weg, trat schnell ans Fenster und blieb vor ihr stehen.
Es verging noch ein Augenblick.
»Hier ist der Schlüssel! (Er holte ihn aus der linken Manteltasche und legte ihn hinter sich auf den Tisch, ohne sich umzuwenden und ohne Dunja anzusehen.) – Nehmen Sie ihn und gehen Sie schnell fort! ...«
Er starrte unverwandt zum Fenster hinaus.
Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.
»Schneller! Schneller!« wiederholte Swidrigailow, immer noch ohne sich zu rühren und umzudrehen.
Aber in diesem »Schneller« lag wohl ein schrecklicher Ton.
Dunja verstand diesen Ton, ergriff den Schlüssel, eilte zur Tür, schloß sie schnell auf und stürzte aus dem Zimmer. Nach einer Minute war sie wie wahnsinnig, halb bewußtlos zum Kanal gekommen und lief in der Richtung zur *schen Brücke.
Swidrigailow blieb noch an die drei Minuten am Fenster stehen, endlich wandte er sich langsam um, blickte um sich und fuhr sich leise mit der Hand über die Stirn. Ein eigentümliches Lächeln verzerrte sein Gesicht; ein trauriges, klägliches, schwaches Lächeln, das Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon eintrocknete, hatte seine Hand beschmiert; er sah das Blut mit Haß an; dann feuchtete er ein Handtuch an und wusch sich die Schläfe ab. Plötzlich fiel ihm der von Dunja fortgeschleuderte Revolver, der zur Tür geflogen war, in die Augen. Er hob ihn auf und sah ihn sich an. Es war ein kleiner altmodischer Taschenrevolver für drei Schuß; es waren darin noch zwei Kugeln und ein Zündhütchen. Einmal konnte man noch schießen. Er dachte eine Weile nach, steckte sich den Revolver in die Tasche, nahm den Hut und verließ das Zimmer.
VI
Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr verbrachte er in allerlei Wirtschaften und Kloaken, immer von der einen in die andere ziehend. Irgendwo fand er auch die Katja wieder, die ein anderes Lakaienlied sang, in dem davon die Rede war, daß irgendein »Schuft und Tyrann« –
»Fing mich süß zu küssen an.«
Swidrigailow traktierte Katja und den Orgeldreher, die Chorsänger, die Lakaien und zwei Schreiber mit Wein. Mit diesen Schreibern hatte er sich eigentlich bloß darum eingelassen, weil sie beide schiefe Nasen hatten: Bei dem einen war die Nase nach rechts gerichtet und bei dem andern nach links. Das kam Swidrigailow wunderlich vor. Sie schleppten Swidrigailow zuletzt in irgendeinen Vergnügungsgarten, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlte. In diesem Garten gab es eine schmächtige dreijährige Tanne und drei Büsche. Außerdem befand sich darin ein »Kursaal«, eigentlich eine Schenke, in der man aber auch Tee bekommen konnte; außerdem standen darin einige grüne Tische und Stühle. Ein Chor schlechter Sänger und ein betrunkener Deutscher aus München, eine Art Hanswurst, mit roter Nase, doch aus irgendeinem Grunde außerordentlich melancholisch, unterhielten das Publikum. Die beiden Schreiber gerieten mit anderen Schreibern in Streit und waren schon dabei, sich mit ihnen zu prügeln. Swidrigailow wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er saß schon eine Viertelstunde zu Gericht, sie schrien aber so, daß man unmöglich etwas verstehen konnte. Am wahrscheinlichsten war es, daß einer von ihnen etwas gestohlen und es sogar schon einem zufällig hinzugekommenen Juden verkauft hatte, aber das Geld mit seinem Freunde nicht teilen wollte. Zuletzt stellte es sich heraus, daß der verkaufte
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