Verbrecher und Versager.
sprich endlich, Onkel John. Erzähl mir von deiner letzten Reise, und wie du dort unten gelandet bist und so getan hast, als wäre alles beim Alten. Als wäre die Zeit für uns stehen geblieben, als hießen die Seehunde immer noch Paul, als gäbe es noch deine Cocusplantage, das Haus, eine Frau, die Kinder, die Träger, und als gäbe es nie wieder Krieg auf der Welt, als müsste ich nur noch die Augen schließen, bis sogar meine Mutter verschwindet.
Und was siehst du, wenn du die Augen öffnest? Du siehst, dass du wieder verloren hast. Der Zweite Weltkrieg steht vor der Tür, in der offenen Tür steht meine Mutter, und durch die Tür deines zweitens Hauses treten ungeladene Gäste. Engländer, die gekommen sind, um dich für immer hinter Gitter zu bringen, in einen Zoo ohne Zahler und Gäste. Zurück bleibt ein leichter Geruch nach Fisch, das Nagelbrett und ein trübes Geheimnis. Über den Rest wird bei uns nicht gesprochen.
Abu Telfan
L EONHARD H AGEBUCHER
(1867)
I n einer langen schlaflosen Nach t am Flughafen von Ams
terdam lese ich mir Abu Telfan vor, um mir die Angst und die Müdigkeit zu vertreiben und um endlich meine eigene Stimme zu hören, denn wer, wenn nicht ich, sagt mir, dass ich noch lebe? Um die Wahrheit zu sagen, ich bin auf der Flucht. Ich habe Afrika kopflos verlassen, ich habe das erstbeste Flugzeug bestiegen, um einem Putsch von der Schippe zu springen, ich habe mich aus dem Staub gemacht, mit nichts als mit diesem Buch in der Tasche, denn ich bin feige, auf alles aus, nur nicht auf Abenteuer!
Die Halle ist vollkommen menschenleer. Nur in der Ferne, auf einer Bank zwischen Kisten, ein furcht- und traumlos schlafender Mann, den Rucksack so nachlässig hingeworfen, als hätte er alles schon hinter sich, die Kisten, die Bücher, die Einsamkeit, sogar meine Angst und die letzte Reise, von der auch er nichts erzählen kann, denn «ich bitte ganz gehorsamst, weder den Ort Abu Telfan noch das Tumurkieland auf der Karte zu suchen; und was das Mondgebirge anbetrifft, so weiß ein jeder ebensogut als ich, daß die Entdecker durchaus noch nicht einig sind, ob sie dasselbe wirklich entdeckt haben. Einige wollen an der Stelle, wo ältere Geographen es notierten, einen großen Sumpf, andere eine ausgedehnte Salzwüste und wieder andere einen unbedeutenden Hügelzug gefunden haben, welches alles keineswegs hindert, daß ich für mein Teil unbedingt an es glaube. –»
Solange ich meine Stimme höre, glaube ich alles! Ich wäre sogar in der Lage zu glauben, der zwischen den Kisten schlafende Mann sei der Held meiner allerletzten Geschichte, Leonhard Hagebucher persönlich, Held eines nutzlosen Abenteuers, das ich lese, um meine Zeit totzuschlagen!
Hier der Steckbrief: Sohn eines deutschen Steuerinspektors, der Kopf in Himmelsrichtung gewachsen, die Füße stecken im Heimatsumpf, irgendwo zwischen Stuttgart und Braunschweig, der Ortsname selbst viel zu lächerlich, um ihn über die Lippen zu bringen. Die Landschaft: ein unbedeutender Hügelzug, den ich, schnell lesend, vergesse. Der Rest: hohe Zäune und wenig Frischluft, man schlägt sich hier gerne selber in Fesseln beim endlosen Blick in den trüben Spiegel. Ein Land gestopft voll mit Hagebuchern, Hagebucher an jeder Ecke! Der Gedanke ist groß, das Land etwas kleiner, weshalb hier auch Dichter nur Buchhalter sind, Fürsten der Selbstzensur, Steuereintreiber, Verwalter von Versen, beamtete Träumer von Revolutionen, die taub unter riesigen Glocken sitzen und sich von fern an ein großes Dröhnen erinnern.
Glasklar, dass aus diesem Jungen nichts wird, Sohn einer händeringenden Mutter, die vergaß, die dreizehnte Fee einzuladen, die zur Strafe den Jungen entschieden verwünscht. Aber soll ich mich auf seine Seite schlagen, nur weil eine Mutter über ihn weint und weil er nicht werden kann wie sein Vater und weil er, wie ich, nichts von Buchhaltung weiß? Soll ich für ihn sein, weil er gegen sich ist, genau wie ich, den Kopf hinterm Mond und Pläne wie Luft, durchsichtig, leicht und niemals zu fassen. Der glaubt, er sei frei und sein Geist sei so frei, ihm hier und da ein Gedicht zu diktieren, zwischen einer Vorlesung und der nächsten, Student der Theologie nur zum Schein, der nicht daran denkt, eine Predigt zu schreiben und nicht weiß, wie man Schafe zusammenhält. Der hält ja nicht einmal sich selbst zusammen, hält stattdessen so lange am Unmöglichen fest, bis es keinen Ausweg mehr gibt. Das heißt, der möchte ein Dichter sein und spielt
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