Verbrecher und Versager.
am liebsten den wilden Mann, der Degen braucht, um an Frischluft zu kommen, bis man ihn wirklich nach draußen setzt!
Mein traumlos schlafender Reisegefährte, «relegierter Studiosus der Theologie»! Und wenn ich ihn jetzt genauer betrachte, werde ich auch die Schmarre entdecken, die ihn für immer gezeichnet hat, eine lange Narbe von der Stirn bis zum Kinn, die auf halber Strecke die Nase erreicht, um schmerzhaft unter dem Mund zu enden und unter alles den Schlussstrich zieht, allem voran unter die Hoffnung des Vaters, der seinen Sohn längst verloren hat. Ein Vater, der sich nicht umgedreht hat und der sich auch niemals umdrehen wird.
Er stand nicht am Tor, keine Hand auf den Augen, von freundlichem Winken gar nicht zu reden. Er fragte auch nicht mehr nach seinem Sohn, er saß längst wieder drinnen am Tisch, um die Dinge zurück in die Ordnung zu bringen und den Sohn zu den anderen Akten zu legen. Er schiebt ihn entschlossen vom Haben ins Soll, mit leichter Hand vom Hier in das Nichts, beglaubigt, gestempelt und unterschrieben. Erst dann steht er auf und tritt durch die Tür, in die Luft eines deutschen Spätsommergartens, um die Mutter des einzigen Sohnes zu trösten, die, immer noch weinend, die Schürze dreht, bis die Schürze sich endlich aufgelöst hat, genau wie das Bild eines wandernden Kindes, das wahrscheinlich, bevor es den Abschied nimmt, zwei Sätze auf einen Zettel schmiert: «Lebt wohl!», sagt der erste, und der zweite behauptet: «Ich suche das Glück!»
Das Glück! Der Vater hat sein Glück schon gefunden, er zieht das kleine dem größeren vor. Denn wie oft hat er nächtelang wach gelegen und immer dasselbe Gebet gemurmelt: Mein Herr und mein Gott, hat der Vater gebetet, ich bitte dich, nimm diese Last von mir. Wer, wenn nicht du, sagt mir, dass ich noch lebe, obwohl mein Sohn ein Versager ist, Futter für trübe Geschichten, Beute der hungrigen Nachbarschaft, relegierter Studiosus der Theologie, der sich aus Not auf die Sprachen verlegt, auf Politik und die niedere Mathematik. Hör mir gut zu, und nimm ihn mir weg, schick ihn dahin, wo keiner ihn findet, am besten, du schickst ihn nach Afrika, da ist es so heiß, dass selbst Kindsköpfe schrumpfen! Sein Körper soll heftig ins Schwitzen geraten, bis kein Platz mehr für Träume bleibt und erst recht kein Platz für große Gedanken. Schick ihn ans Kap meiner letzten Hoffnung, von mir aus auch zu den Hottentotten, wenns sein muss auch zu den Baggaranegern, nur schick ihn weit weg, ganz und gar übers Meer, leg für immer Wasser und Land zwischen uns, und obenauf Wüste und Salz und Gebirge, ich lege die besten Wünsche dazu, sein ganzes Schicksal in deine Hand. Und wenn ich dann durch die Gartentür trete, an einem letzten und jüngsten Tag, dann sollst du nicht fragen: Wo ist dein Sohn?, denn ich habe nie einen Sohn gehabt. Wer, wenn nicht du, weiß, was es bedeutet, sich mit schwierigen Söhnen herumzuschlagen, die unberufen die Gegend bewandern und Unsinn unter die Leute bringen, bis man ihnen zu Leibe rückt und am Ende um ihre Kleider würfelt.
Ich habe lange genug bezahlt, für den, der in diesen Kleidern steckt, er hat nur verzehrt, nie Gewinn abgeworfen, das alles weißt du viel besser als ich. Also nimm mir endlich die Last von den Schultern und lass mich wieder in Ruhe schlafen und mach, dass, wenn ich morgen erwache, die Frau neben mir endlich aufhört zu weinen - man muss wissen, wer weggeht und wer nicht zurückkommt, alles andere ist sinnlos.
Und Gott hat den Steuerinspektor erhört und hat seinen Sohn in die Flucht geschlagen. Er hat ihn über die Hügel geschickt, Fuß vor Fuß, immer weiter nach Süden, wo wir bis heute das Glück vermuten. Leonhard hat sich nicht umgedreht, denn die Narbe im Wind weist deutlich nach vorn, auf das schöne, andere, größere Leben. Das ganze Leben ein einziger Sommer, das ganze Leben ein Abenteuer, in Wahrheit nichts als ein ewiges Lehrjahr, aus dem niemals ein Herrenjahr werden kann, nur Laufen, Schieben, Reißen und Stoßen, Stellung auf Stellung und Posten um Posten, eine Perlenkette glänzender Ämter:
Privatlehrer einer Erziehungsanstalt für niedere Spra- chen und Mathematik, Schüler, die stumpf aus den Fens- tern glotzen, wenn er die deutsche Grammatik erklärt, verlorene Söhne und höhere Töchter. Man wird sich wohl um ihn gerissen haben, denn so viel Bewegung ist in diesem Leben, dass mir beim Lesen fast schwindlig wird, vielleicht weil mir alles bekannt vorkommt, schon als
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