Verdammt wenig Leben
war seine Mörderin. Alice hatte schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt, ihr falsches Medienleben an den Nagel zu hängen, und dieses Drehbuch war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nach langem Überlegen beschloss sie, Minerva ins Vertrauen zu ziehen. Die Drehbuchautorin war entsetzt. Sie war nicht so naiv, die Todesfälle, die in den besonders erfolgreichen Livesendungen ab und zu vorkamen, für reinen Zufall zu halten, aber dass man sie auf so kalte und berechnende Weise plante, hätte sie niemals gedacht. Sie begann auf eigene Faust zu recherchieren und fand heraus, dass jeder Produzent über ein Team von Drehbuchautoren verfügte, das speziell auf solche Szenen angesetzt wurde.
Sie beschloss, dieser künstlichen Welt, die sie jetzt nur noch anwiderte, den Rücken zu kehren, aber nicht ohne vorher ihre beiden Lieblingsfiguren zu befreien: Jason und Alice. Allerdings würde das nur gelingen, wenn sie ihnen in ihrer fiktiven Geschichte einen glaubwürdigen Abgang verschaffte. Nur so konnte sie erreichen, dass der Produzent sich nicht die Mühe machte, nach ihnen zu suchen.
Minerva erfand für Alice einen falschen Tod und für Jason eine heldenhafte Flucht. Das einzige Problem bestand darin, Jason zum Mitmachen zu bewegen. Anders als Alice schien er mit seinem Leben zufrieden zu sein. Minerva musste ihm zeigen, welcher Horror sich hinter dieser Fassade von fein säuberlich entworfenen Existenzen verbarg. Das war der einzige Weg, um ihn der transparenten Stadt zu entreißen.
Bei ihren Recherchen entdeckte Minerva mehrere Morde, die die Produzenten für ihre nächsten Sendungen planten. Sie wollte Jason die Augen öffnen. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits geflohen und musste mit ihren Nachrichten sehr vorsichtig sein, um nicht entdeckt zu werden. Nur solange sie sich in Schweigen hüllte, würde man sie bald vergessen. Ein Drehbuchautor mehr oder weniger machte den Produzenten nichts aus. Wenn sie jedoch erfuhren, dass jemand Insiderwissen ausplauderte, waren sie unerbittlich. Sie musste also mit Bedacht vorgehen und Jason anhand einiger indirekter, scheinbar bedeutungsloser Hinweise selbst herausfinden lassen, was hinter den Kulissen geschah.
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Jason sah aus den Augenwinkeln nach Minervas zartem, sommersprossigem Gesicht. Sie schien völlig in den Anblick des Meeres versunken zu sein.
»Ich verstehe, warum du mich mit der Nase auf die verschiedenen Fälle gestoßen hast, auf Frey, auf die Allen-Schwestern und das Wohnhaus-Studio mit den Lyrikern«, begann er zögernd. »Ich sollte mitbekommen, was da lief. Aber was genau sollte ich da tun?«
Minerva drehte ihm den Kopf zu. Sie lächelte leicht.
»Genau das, was du getan hast.« Ihre lebhafte, kristallklare Stimme war für Jason jedes Mal noch eine Überraschung. »Wenn du anders reagiert hättest, wäre ich enttäuscht gewesen.«
»Und diese Menschen wären gestorben«, ergänzte Jason fast streng.
Minerva sah ihm kurz in die Augen, dann kehrte ihr Blick zum Meer zurück.
»Frey ist trotzdem gestorben«, sagte sie traurig. »Zumindest wusste ich, dass du versuchen würdest, sie alle zu retten. Sie waren zum Tod verurteilt, Jason. Und ich war nicht mehr in der Position, ihnen zu helfen. Durch dich hatten sie zumindest eine Chance. Die Allen-Schwestern haben sie genutzt und Carlos Muro auch.«
»Aber warum gehen wir mit unserem Wissen nicht an die Öffentlichkeit?«, brach es aus Jason heraus. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, was durch die Schönheit der Landschaft noch verstärkt wurde, die in so krassem Gegensatz zu dem Horror stand, den er gerade hinter sich gelassen hatte. »Die Leute würden rebellieren, es wäre das Ende der Produzenten …«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Es sterben nicht so viele Leute, als dass die Zuschauer misstrauisch würden. Und wenn doch, sehen sie lieber weg. Es gehört viel Mut dazu, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Vor allem muss man das Gefühl haben, dass es sich lohnt. Für die meisten Bewohner der transparenten Stadt wäre ein Leben ohne die Aussicht, im Rampenlicht der Medien zum Star zu werden, ein leeres Leben. Ich glaube, selbst wenn sie wüssten, welches Risiko sie dafür eingehen, würden sie sich nicht abschrecken lassen.«
»Verstehe«, sagte Jason stirnrunzelnd. »Für mich wird es auch schwierig werden. Es ist, als müsste ich ganz neu zu leben lernen. Ich will es versuchen, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe.«
Er betrachtete
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