und der blaue Diamant
I
Wiedersehen mit Tim
»Ich habe das Gefühl«, sagte Georg, »daß in diesen Ferien irgend etwas schiefgeht.« Sie starrte aus dem Abteilfenster nach draußen, wo die Landschaft an ihnen vorbeiflog. Wiesen, Felder, Telegrafenmasten, Häuser, die schläfrig in der Mittagssonne dösten. »Unsinn«, sagte Anne, »Was soll denn schiefgehen? Heute ist unser erster Ferientag, wir fahren zu dir nach Hause, du wirst deine geliebte Ferieninsel wiedersehen, meine Brüder werden morgen kommen, und wir werden die tollsten Ferien verbringen, die du dir nur denken kannst! Schau mal, was für ein herrliches Wetter draußen ist!«
Georg knurrte mißmutig. Alle fünf Minuten sah sie auf die Uhr. »Heute kommt mir die Fahrt vom Internat nach Hause wirklich ewig vor«, sagte sie ungeduldig. Anne lächelte. »Das liegt bloß daran, daß du deinen Hund Tim nicht bei dir hast. Ich weiß schon, warum du so schlecht gelaunt bist: weil du Angst hast, daß Tim dich vielleicht gar nicht mehr erkennt, wenn er dich vom Bahnhof abholt.«
Georg blitzte ihre Cousine wütend an. »Was für einen Blödsinn du redest! Natürlich erkennt Tim mich wieder! Tim würde mich auch noch nach zehn Jahren wiedererkennen! Außerdem sind es ja bloß sechs Wochen, die wir getrennt waren. Seit Pfingsten. Aber du weißt ja selbst, daß ich ihn nicht mit ins Internat nehmen konnte, wo er doch die gebrochene Pfote hatte.«
Anne nickte. Tausendmal hatten sie das Problem schon durchgesprochen. Anne und ihre Cousine Georgina besuchten seit einiger Zeit das gleiche Internat. Und glücklicherweise war es dort erlaubt, Hunde mitzubringen. Denn Georg hätte sich nie im Leben von ihrem geliebten Tim getrennt! Lieber wäre sie überhaupt nicht zur Schule gegangen und hätte nicht lesen und schreiben gelernt, als daß sie auf ihren Tim verzichtet hätte! Tim war aber wirklich auch zum Liebhaben. Eine Promenadenmischung mit braunem, struppigem Fell, großen honigfarbenen treuen Augen und einem lächerlich langen Schwanz, der fast bis auf den Boden reichte. Tim war ihr bester Spielkamerad. »Hoffentlich«, sagte Georg ängstlich, »hat Jakob sich ordentlich um ihn gekümmert! Hoffentlich hat er den Verband rechtzeitig gewechselt. Und ihm die Salbe auf die Pfote geschmiert und … «
»Georg! Bitte! Hör endlich auf! Ich kann es nicht mehr hören! Seit sechs Wochen erzählst du immer dasselbe!« Anne hielt sich die Ohren zu und machte ein ganz leidendes Gesicht. Georg mußte plötzlich lachen. »Wie das aussieht!« prustete sie los. »Ich glaube, dir würden Ohrenschützer ganz toll stehen! Ich werd's dem Weihnachtsmann sagen!«
Der Zug fuhr pfeifend in einen Tunnel ein, und für ein paar Sekunden war es stockfinster im Abteil. »Huuh!« machte Georg, die sich blitzschnell neben Anne gesetzt hatte und ihr ins Ohr prustete. Anne wurde kreidebleich. Sie sah noch immer ganz erschrocken aus, als der Zug den Tunnel wieder verlassen hatte und langsam in den Bahnhof einlief. ' »Du sollst mich nicht so erschrecken, Georg!« sagte sie beleidigt. »Du weißt doch, daß ich im Dunkeln immer Angst kriege.« Georg lachte amüsiert. »Deshalb habe ich es ja auch gemacht.«
Sie zog das Fenster halb herunter und steckte den Kopf raus. Der Wind zerrte an ihren kurzen dunklen Locken, und sie mußte die Augen zusammenkneifen. Sie wurde plötzlich ganz aufgeregt. »Wir sind ja schon da, Anne! Komm, schnell! Beeil dich! Mensch, beinah hätten wir unsere Station verpaßt! Hol deinen Koffer runter! Hast du deine Tasche? Und den Beutel mit dem Proviant, komm, stell alles schon mal auf den Gang!« Gemeinsam schleppten sie ihre Koffer zur Tür. »Ob Tim wohl am Bahnhof ist?« fragte Georg schon wieder. »Das hast du nun schon tausendmal … « wollte Anne gerade sagen, als sie ein lautes »Wuff! Wuff!« hörten. Ein Leuchten ging über Georgs Gesicht. »Das ist er! Tim ist da! Mein Tim! Ich habe es ja gewußt! Ich habe es ja gewußt! Tim! Tim!« Vor lauter Aufregung und Begeisterung wäre sie fast aus dem Zug gefallen. Tim stand neben dem Fischerjungen Jakob auf dem Bahnsteig und riß und zerrte an seiner Leine, so daß Jakob ihn kaum halten konnte. Georg, die ihre Koffer abgestellt hatte, schrie: »Laß ihn doch los, Jakob! Komm zu mir, Tim! Komm!«
Jakob ließ die Leine fallen, und Tim spurtete los. Mit ein paar Riesensprüngen war er bei Georg, sprang an ihr hoch und leckte ihr vor Freude das Gesicht. Mit den Vorderpfoten stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen ihren Oberkörper,
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