Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
Amphitheater der Welt. Nur das Kolosseum in Rom und das Amphitheater in Capua sind größer. Im Inneren haben zweiundzwanzigtausend Zuschauer Platz.«
Laura Zanetti machte eine kurze Pause und holte Luft. Sie stand auf der weitläufigen Piazza Brà in Verona mit dem Rücken zum monumentalen Bau der Arena, vor sich eine Gruppe mit Touristen aus Amerika, allesamt in Shorts, mit Turnschuhen und unglaublich bunten Hemden.
Laura Zanetti, die gut Englisch sprach, mit einem sympathischen italienischen Akzent, deutete hinter sich: »Bitte beachten Sie die klassisch gegliederte Fassade mit den Arkaden. Ursprünglich wurde die Arena von einer äußeren Prunkmauer umschlossen, von der allerdings nur noch vier Bogen erhalten sind.«
Laura Zanetti – sie war Ende zwanzig, hatte Kunstgeschichte studiert und verdiente sich übergangsweise ihr Geld als Fremdenführerin – warf einen prüfenden Blick auf ihre Reisegruppe. Eine besondere Faszination schien von ihrem Vortrag nicht auszugehen. Der dicke Mann ganz links konzentrierte sich mit seiner Videokamera auf eine Taube, die gerade vor ihm gelandet war, als ob es sich hierbei um das letzte Exemplar einer aussterbenden Vogelart handeln würde. Eine junge Frau feilte mit Hingabe an ihren Fingernägeln. Laura musste lächeln, als ihr Blick auf ein älteres Ehepaar mit Tirolerhüten fiel. Offenbar war die Reisegruppe vorher in Bayern oder Österreich gewesen. Wahrscheinlich hatten die Amerikaner, die allesamt aus Wyoming stammten, eine Rundreise nach dem Schema gebucht: »See Europe in seven days!« Ob die Folklorefreunde mit den grünen Hüten wussten, dass sie mittlerweile in Italien waren? Laura Zanetti beschloss, ihre Ausführungen etwas lebendiger zu gestalten. Da sie diesen Job erst seit wenigen Monaten machte und dies auch nur so lange tun wollte, bis sie eine Stelle an einem der Museen in Verona, Padua oder Venedig bekommen hatte, nahm sie solche Herausforderungen gerne an. Einer hauptamtlichen, leidgeprüften Reiseführerin wäre es vielleicht egal gewesen. Wäre doch gelacht, wenn es ihr nicht gelänge, die Gruppe zu fesseln.
»Wissen Sie, wofür die Arena von den Römern gebaut wurde?«, fragte Laura in die Runde. Wie erwartet, gab es zunächst keine Reaktion. Dann meldete sich überraschenderweise der Tirolerhut: »Yeah, young lady, die Römer bauten die Arena, um
Aida
aufzuführen!«
Seine Frau nickte zustimmend. Da sage noch jemand, Amerikaner hätten keine Ahnung von europäischer Kultur und Geschichte.
Laura lächelte. »Sehr gut. Die Arena ist in der Tat weltberühmt für ihre Opernfestspiele. Aber der Komponist Verdi lebte wesentlich später als die alten Römer.«
Der Mann mit dem Tirolerhut zeigte einen verblüfften Gesichtsausdruck.
Laura fuhr fort: »Verdis Oper
Aida
wurde hier in dieser Arena erstmals 1913 aus Anlass des hundertsten Geburtstags des Komponisten aufgeführt. Premiere hatte
Aida
ja schon 1871 in Kairo. Verdi hatte die Oper im Auftrag des Khediven von Ägypten für die Feierlichkeiten zur Eröffnung des Suezkanals geschrieben. Nein, die Arena wurde fast zweitausend Jahre früher gebaut, vor allem, um Gladiatoren gegeneinander und gegen Löwen und Tiger kämpfen zu lassen. Unzählige Gladiatoren, darunter viele verfolgte Christen, haben hinter diesen Mauern zur Unterhaltung der Zuschauer ihr Leben gelassen. Die alten Römer hatten einen feinen Sinn fürs Entertainment.«
Laura hatte das Gefühl, dass die Gruppe aus Wyoming die Arena plötzlich mit größerem Interesse betrachtete.
»Später gab es hier Hinrichtungen, und in der Arena wurden Stierkämpfe abgehalten. Die äußere Mauer, von der ich Ihnen vorhin erzählt habe, ist bei einem Erdbeben 1183 eingestürzt.«
Der Taubenfilmer ließ beim Stichwort »earthquake« von seinem Zielobjekt ab und sah sich erschrocken um. »Wann war das Erdbeben?«, fragte er.
Laura lachte. »1183, da war Amerika noch nicht entdeckt. Hier gab es immer wieder starke Erdbeben, ganz ähnlich wie bei Ihnen in Kalifornien. Übrigens, hier unter den Arkaden, da war im vorigen Jahrhundert ein Bordell mit aufreizenden Nutten.«
Laura verbuchte es als großen Erfolg, dass der dicke Amerikaner nun endgültig das Interesse an der Vogelwelt verloren hatte und die Videokamera auf die Arkaden richtete.
Sie schaute auf die Uhr – elf. In der verbleibenden Stunde des Vormittagsprogramms würde sie mit ihrer Gruppe noch durch die Via Mazzini laufen, die erst am späten Nachmittag und am Abend richtig belebt sein
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