Vereister Sommer
seidig glänzende Stofftapete überzieht die Wand hinter der Szene, an der ein großes romantisches Ölgemälde in altem Goldrahmen hängt. Im selben Zimmer auf derselben Couch schließlich Ljuba, die Tochter. Ein geschmückter Weihnachtsbaum funkelt in der Ecke, neben Ljuba sitzt eine prachtvolle Kartäuserkatze mit vom Photoblitz glühenden Augen, und auch bei uns in Schweden okkupiert so ein blaugrauer Teufelsbraten,
Lena
genannt, Couchecken und Sessel, am liebsten aber ganze Betten im Schlaf- oder Gästezimmer. Zwischen Ljuba jedoch und ihrer Karthäuserin – Constanze, fast genauso alt wie ihre Moskauer Cousine, würde jubeln, wenn sie das sähe –, thront tatsächlich
Alf
, die amerikanische Fernsehpuppe vom anderen Stern. Also auch hier, denke ich, beim Druckereidirektor Wjatscheslaw Wladimirowitsch Fedotow, und belasse es nicht dabei, sondern sage es Konstantin, der es übersetzt: Wir lachen. Schöne neue Fernsehwelt, und wie klein sie tatsächlich ist inzwischen. Tamara bedauert, dass wir uns in den zurückliegenden Tagen nicht schon eher getroffen hätten, weil sie es erst so spät erfahren haben, dass es mich gibt und ich auch noch in Moskau sei. »Ich werde wiederkommen«, sage ich, »und vielleicht Constanze mitbringen.« Ein Photo von ihr liegt jetzt zwischen uns auf dem Tisch. Dann fragen sie nach meinen Büchern, die ich mitgebracht habe, nach Titeln und Inhalten. Ich zeige, blättere, rede. Bin glücklich, dass auch sie sich so dafür interessieren. Aber Tamara sagt, sie seien stolz auf den Bruder, Schwager und Onkel, der nun dazugehöre, und ich weiß nicht mehr, wo ich hingucken soll. Ich habe oft darüber nachgedacht, auf wen ich wohl treffen würde, wenn ich zu meiner Familie nach Russland käme, und meine Phantasie hat mir viele Gestalten und Szenerien durch den Kopf spuken lassen. Ein Abgrund an Möglichkeiten, ein Himmel. |215| Ja, es war schwierig, sie zu treffen, die
wirkliche
Familie; aber es ist nicht nur nicht enttäuschend, mit ihr zusammen zu sein in diesen Tagen und Stunden. Es ist beglückend. Wir wissen zwar kaum etwas voneinander, doch das, was wir schon wissen, bruchstückhaft wie Teile eines Puzzles, und das, was wir sehen und gesehen haben, Szene für Szene, Geste um Geste, scheint zu passen.
Zusammenzupassen
. Das Gefühl sagt ja, und die Augen widersprechen nicht.
Kurz nach dreiundzwanzig Uhr wird Vater allmählich unruhig, sie müssten wohl, sagt er. »Aber es müssen noch Photos gemacht werden«, sag ich. Gruppenphotos. Auf dem einen die Familie mit dem neuen Sohn, Bruder und Onkel; auf dem anderen sind alle die mit von der Partie, die dem Photographen, einem Restaurantangestellten, das Motiv erst verschafft haben: John, Adri und Christine, Susanna und ihr Gefährte, schließlich Konstantin. Während wir Aufstellung nehmen, wird mir plötzlich bewusst, dass Vater drei Söhne gezeugt hat, diese drei Söhne aber nur Töchter. Nur? Wenn ich das Geschehen gestern und heute richtig beobachtet habe, gibt es für diese drei Söhne jedoch kaum etwas Glückhafteres als Töchter.
Väter und Söhne
, denke ich, der Roman ist, Gott sei Dank, schon geschrieben, und sehe Jewgenij Basarows Vater, zusammen mit seiner Frau, am Grab des Sohnes auf einem kleinen Friedhof
in einer der entferntesten Ecken Russlands
niederknien und
weinen lange und bitterlich
. Unser Roman müsste »Väter und Töchter« heißen, aber das wäre nicht bloß ein anderer Titel. Das ist eine ganz andere Geschichte. Inzwischen ist auch die Rechnung da, und meine Kreditkarte streikt nicht. Das steigert das Glücksgefühl über diesen Abend fast ins Uferlose. Eine Viertelstunde später stehen wir alle vor der Tür des »Goeria«, um uns zu verabschieden. Jurij sagt mir noch, er, Vater und Julia wollten mich morgen zum Flughafen bringen. Wir werden uns deshalb um dreizehn Uhr im Hotel treffen. Es bewegt mich, dass es ihr |216| Wunsch ist. Ich habe nicht damit gerechnet und hätte es auch nie verlangt.
Wenig später fahren auch wir ab, zurück ins »Rossija«. Das nächtliche Moskau ist so lebendig und aufregend wie an allen Tagen und Nächten zuvor. Aber dann, in der Nähe des Hotels »Baltschug Kempinski«, auf der Höhe der Moskwa, zeichnet sich etwas geradezu Gespenstisches gegen den schwarzen Nachthimmel ab: Riesige Flammen schlagen aus einem großen Gebäude. Wir halten, photographieren, fahren weiter. Je näher wir dem Kreml, dem Roten Platz und unserem Hotel kommen, umso mehr sehen wir von dem schauerlichen
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