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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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sie lange verschwunden schien, die nun plötzlich wieder aufgetaucht ist, mit ihren farbigen Bildern und beweglichen Szenen, weil das Wort Georgien fiel, ich aber
Grusinien
sah – verschmolzen zu einem Gefühlsecho, das sich in meinem Kopf aufbewahrt hat wie eine unbestreitbare Wahrheit. Und was weiß ich schon, was diese Geschichte noch alles spiegelt in meinem Bewusstsein und dem Labyrinth seiner Säle, Räume und Kammern wie seiner vollkommen verborgenen Winkel und Gänge. Wir sind mehr als nur unser Wissen um uns. Wir sind reicher als unsere Bewusstseinsarmut uns vorgaukelt.
     
    »Ich möchte nichts darüber wissen, nichts davon hören!«
Kann es wirklich sein, dass der Mann, der mich jetzt – bekleidet mit einer feinen Hose, einem feinen Jackett und einem schneeweißen Rollkragenpullover – im Eingangsbereich des Restaurants »Goeria« irgendwo in Moskau in seine weit geöffneten Arme schließt und fest, ja geradezu innig an seine Brust drückt und nicht mehr loslässt wie schon gestern in Schalikowo, dass
er
derselbe ist, der vor Tagen jene fast verstörenden Sätze gesagt hat, um dann sofort wieder den Telefonhörer aufzulegen, bevor der Anrufer auch nur eine Silbe darauf erwidern konnte?
»Ich möchte nichts darüber wissen, nichts davon hören!«
Jedenfalls waren das seine Worte, als Konstantin noch |206| einmal versuchte, auf direktem Wege eine Begegnung zwischen uns zu organisieren. Aber er
ist
hier, will also doch endlich wissen und hören, genau und aus erster Hand, was ihm schon seit 1993 durch den Kopf geht, nachdem sie ihn im Militärhistorischen Archiv informiert haben über diesen Sohn im fernen Deutschland, dem er damals noch kein Vater sein wollte, sich im Gespräch dann aber doch als sein Vater verriet, weil er immer wieder danach fragte, was denn geworden sei aus diesem jungen Mann, welchen Weg er gemacht habe, ob es ihm gutgehe.
    Zu Hause ist inzwischen Ostermontag, und hier ist was? Vielleicht ein Wiedersehen zwischen Verwandten, die sich vorkommen wie Kolumbus und seine Amerikaner, vierundzwanzig Stunden nach der Entdeckung, und alle sind erneut an den Strand gekommen, neugierig und aufgeregt, brauchen aber, wie schon vor 507 Jahren an einem Tag im April,
Dolmetscher,
die die Neugier befriedigen und die Aufregung dämpfen: Wladimir Jegorowitsch, Jurij und Slavik, ihre Ehefrauen Rima und Tamara, die Töchter Julia und Ljuba, die Amerikaner des Abends, und ich, Kolumbus, mit holländischer Mannschaft. Der Mann war mir schon immer sympathisch, hat er doch seine Leidenschaft auf Könige übertragen. Jurijs und Rimas kleine Alexandra ist zu Hause geblieben, bei ihrem Luftballonnachtgespenst, wie Vaters Frau, die ich gerne dabeigehabt hätte. Doch sie passt auf das Enkeltöchterchen auf. Nach der langen Umarmung mit Vater, die mit dem uralten Ritual des dreifachen orthodoxen Kusses auf meinen Wangen endet, wiederholt sich die Zeremonie mit den anderen Familienmitgliedern, und auch mit Tamara und Ljuba, die mich zum ersten Mal sehen, geschieht es nicht weniger herzlich, und doch gehüllt in einen Hauch Befangenheit. Dann gehen wir alle zu Tisch, der eine ziemlich lange, weiß eingedeckte Tafel ist, in einem saalartigen Raum im Obergeschoss des Restaurants, an seinen Mauern aus dunkel gebrannten Ziegelsteinen hängen großformatige Gemälde und Wandteppiche, märchenhafte |207| Gebäudeensemble darauf, Kirchen, Burgen, Schlösser. Dazwischen fällt warmes Licht auf die Tafel, von Wandlampen mit Schirmen aus milchigem Glas. In der Mitte des Tisches flackern in einem silbernen Leuchter vier dunkelgrüne Kerzen. Wir nehmen Platz, dann wird serviert: Fleisch, in allen Variationen, gegrillt auf dem Rost, am Spieß, gebraten in Scheiben auf Platten. Dazu Brot, Gemüse, Püriertes, Scharfes und Mildes, und Bier und Wasser und Wein, Rotwein. Eine Serie vollendeter Köstlichkeiten.
     
    Vater und ich sitzen in der Mitte der Tafel, hinter unserem Rücken hängt das Gemälde an der Wand, auf dem sich zahlreiche Kirchen erheben, kann das ein Zufall sein? Oder sehe ich nur noch Harmoniegespenster aus der starken Quelle meiner Sehnsüchte und Wünsche? Links neben mir findet sich Jurij ein, schräg gegenüber sitzen Slavik und Tamara, daneben Ljuba, die zweiundzwanzigjährige Tochter der beiden, sie hat gerade ihr Jurastudium an der Lomonossow-Universität begonnen, später raucht sie elegant eine Zigarette. Neben ihr Cousine Julia und über Eck Tante Rima. John, Adri und die fiebrige Christine haben sich am

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