Das Raetsel von Flatey
Eins
Mittwoch, 1. Juni 1960
Ein scharfer Ostwind blies in der
Morgenfrühe über die weite Bucht des
Breiðafjörður und wühlte das Meer zwischen den
westlichsten Inseln zu weiß schäumenden Kämmen auf.
Ein Papageitaucher flog konzentriert in schnellem Tiefflug dicht
über der Wasseroberfläche dahin, und ein Kormoran
breitete auf einer flachen Klippe die Flügel aus. Einige
Gryllteisten tauchten in die Tiefen des Meeres ab, während
hoch oben Möwen kreisten und nach möglicher Beute
Ausschau hielten. Die gesamte Tierwelt des Fjords tummelte sich in
der strahlenden Morgensonne.
Ein kleines, aber stabiles Motorboot
hatte von der Insel Flatey abgelegt, Kurs in südliche Richtung
aufgenommen und schlingerte jetzt auf den eiligen Wellen. Es war
gebaut wie die alten Ruderboote, mit denen man in früheren
Zeiten zum Fang ausgefahren war. Am Bug des schwarz geteerten
Fahrzeugs stand der Name RABE mit einem großen weißen
Anfangsbuchstaben. Drei Menschen befanden sich in dem Boot, ein
kleiner Junge, ein Mann mittleren Alters und einer, der sichtlich
älter war. Drei Generationen, die alle in Endenkate zu Hause
waren, einem kleinen Hof am westlichen Ende von
Flatey.
Der Älteste hieß
Jón Ferdinand. Er saß im Heck und steuerte das Boot.
Weiße Bartstoppeln standen in einem zerfurchten Antlitz, und
aus den weiten Nasenlöchern rannen schwarze
Schnupftabaksstriemen. Die grauen Haarbüschel, die unter der
alten Schiffermütze hervorguckten, wehten ihm ins Gesicht.
Seine große knochige Hand hielt die Ruderpinne mit festem
Griff, und die alten Augen hielten unter buschigen Brauen Ausschau
nach einer kleinen Insel im Süden. Es war nicht einfach, den
richtigen Kurs zu halten, auch wenn die Sicht gut war. Die vielen
Inseln und Schären hoben sich gegen das Festland ab, und
jenseits von ihnen lagen die Berge von Dalir in blauem
Dunst.
Jón Ferdinand nahm die Wellen
zumeist in spitzem Winkel, änderte aber immer wieder einmal
die Fahrtrichtung. Das Fahrzeug war so klein, dass es bei der
unruhigen See unangenehm wurde, wenn Brecher das Boot von der Seite
trafen. Aber der Alte steuerte mit Gefühl und schien seinen
Spaß an dieser Auseinandersetzung zu haben.
Auf der Ruderbank vor dem
Maschinenraum saß der Sohn des Steuermanns, der Guðvaldur
hieß. Er rauchte eine Stummelpfeife und war dabei, ein
Taschenmesser zu wetzen. Ohne Kopfbedeckung, aber in einem dicken
Wollpullover saß er mit dem Rücken zur Fahrtrichtung,
denn manchmal spritzte die Gischt ins Boot hinein. Das Gesicht war
wettergegerbt und die Miene bärbeißig. Das linke Auge
war blind, denn auf Grund einer Verletzung war es völlig
weiß geworden. Das andere Auge war pechschwarz. Guðvaldur
war nach einem längst verstorbenen Verwandten benannt worden,
der seiner schwangeren Mutter im Traum erschienen war und sie
gebeten hatte, das Kind auf seinen Namen zu taufen. Von den
Inselbewohnern wurde er aber normalerweise nur Valdi genannt, Valdi
von Endenkate.
Eine ungewöhnlich hohe Welle
prallte gegen den Bug, und die Spritzer trafen Valdi im Nacken. Er
blickte hoch und peilte die Richtung, in die das Boot steuerte.
»Papa, pass doch auf«, rief er in barschem Ton.
»Hast du schon wieder vergessen, dass wir auf dem Weg nach
Ketilsey sind? Du steuerst viel zu weit nach
Süden.«
Der alte Mann lächelte, wobei
ein paar gelbe Zahnstummel und ein zahnloser Oberkiefer zum
Vorschein kamen.
»Zu weit nach Süden, zu
weit nach Süden«, sagte er mit heiserer Stimme und
steuerte das Boot in die Wellen hinein. Als Valdi sah, dass der
Kurs wieder stimmte, rauchte er weiter und beschäftigte sich
wieder mit dem Messer.
Der kleine Nonni war Valdis Sohn. Er
hockte auf einem zusammengefalteten Segel im Steven und umklammerte
mit beiden Händen das Dollbord. Ihm war kalt, und er war
seekrank. Das war er gewohnt, und meistens waren ihm Kälte und
Übelkeit ziemlich egal. Aber viel schlimmer und alles andere
als seemännisch war, dass er ganz dringend aufs Klo musste. Er
war heute Morgen zu spät aufgestanden und hatte in der Eile
vergessen, aufs Häuschen zu gehen, bevor sie aufbrachen.
Seinem Vater gegenüber erwähnte er aber seine Not mit
keinem Wort, denn Valdi hätte ihm einfach gesagt, er solle
sich auf die Bordkante hocken und da sein Geschäft verrichten.
Aber bei diesem Seegang war dem Jungen nicht danach zumute. Ab und
zu richtete er sich auf und starrte über den Bug nach vorn, um
zu sehen, wie weit es noch war, aber das Boot kam nur langsam
voran. Dann ließ er
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