Vereister Sommer
Mann es ist? Ich erzähle von ihm, von Rudolph, dem Böhmen aus Königgrätz, mit einem tschechischen Vater und einer deutschen Mutter, der als kleiner Soldat im Zweiten Weltkrieg ein schweres Maschinengewehr schleppen musste, in der Schlacht bei Monte Cassino in Gefangenschaft geriet und, zu seinem Glück, nach Amerika kam. Einmal hat er einen schwerverletzten Kameraden gerettet, auf einer Zeltbahne zog er ihn unter Beschuss ins Hinterland. Die Eltern des Geretteten, Bauern, bedankten sich bei den Eltern des tapferen |210| Retters mit einem Lebensmittelpaket. Sein redseliger Bruder hat es berichtet, er selbst hätte es nie getan. Nach dem Krieg war er ein begabter Eishockeyspieler, nicht in Böhmen, in Mecklenburg, weil er, wie viele, seine alte Heimat verlassen musste. »1978 haben sie geheiratet«, sag ich, »ein Jahr später sind sie zu uns nach Hamburg gekommen.« Vor sechs Jahren fast auf den Tag sei der einst so sportliche Mann, inzwischen an den Rollstuhl gefesselt, an den Folgen von Parkinson gestorben. Sie hätten sich gut verstanden. »Er hatte«, sag ich zuletzt, »am selben Tag Geburtstag wie du, aber er war ein Jahr älter.«
»Weißt du«, Vater guckt jetzt durch mich hindurch, in eine imaginäre Ferne, »der Krieg hat meinen Vater das Leben gekostet, beim Einmarsch der Deutschen in unser Dorf, elf Geschwister hatte ich noch, und später hat mich dieser Krieg nach Deutschland gebracht. Ich hab gearbeitet dort, ich war jung, es war alles so ordentlich und sauber, ich hatte zu essen, es war keine schlechte Zeit für mich. Noch immer sehe ich die wunderschönen Alleen mit den Obstbäumen in dem Dorf, wo ich gewesen bin.« Während er erzählt, erinnere ich mich, dass auch Mutter mir sagte, Vater sei als Junge in Deutschland gewesen, dorthin verschlagen durch den Krieg, aber seine Familie habe er in Leningrad verloren. Ich bin versucht, nachzufassen, nachzufragen, nachzubohren: Wie das? Warum Leningrad? Wie kannst du in Deutschland gewesen sein, nach 1941, 1944 aber Soldat der Sowjetarmee, sogar Kundschafter, wie dein Militäraktenblatt vermerkt, an der 3. Ukrainischen Front? Hat dich mein Mutterland zurückkehren lassen, bevor seine Soldaten selber wieder zurückmussten aus Russland, meinem Vaterland? War das wirklich möglich, oder bist du zurückgeflohen? Hattest du Heimweh, gab es einen Auftrag, oder hattest du, wie immer, nur Glück? Alle Russen, die in deutsche Hände geraten waren, standen bei Stalin doch unter Verdacht? Wie verkeilt sind diese Mutter- und Vaterländer in mir, selbst wenn es nur die zwei Teile der einen Vorgeschichte |211| sind? Aber du erzählst, als sei das alles logisch gewesen. Karg, schnörkellos, eindeutig. Was ist Logik, wenn sie nicht
lógos
ist oder wird? Zufall, Unsinn, Absurdität?
Frag nicht, denke ich, versuch nicht, das Unbegreifliche zu begreifen, schon gar nicht jetzt, in diesem Moment, und greife deshalb rasch ein weiteres Mal nach dem Photostapel, den er mir mitgebracht hat, beginne, in die entgegengesetzte Richtung zu fragen, viele der Bilder zeigen Vater in hochnordischer, eisiger Landschaft. »Wo ist das«, frage ich ihn, »nach Moskau sieht das nicht aus?« »
Igarka «
, sagt er, »das ist in Igarka.« »Igarka?«, frage ich zurück, »nie gehört, wo liegt das?« »Am Jenissej, in der Arktis, weit weg von hier.« »Wie bist du dort hingekommen?« »Mit der Akademie, der Akademie der Wissenschaften der UdSSR«, sagt er, «da war ich Direktor der Versorgungsabteilung, viele Jahre lang.« Also das war das gastronomische Institut, von dem Jurij gesprochen hat, denke ich und blicke auf den gefrorenen Strom, sehe im Eis eingeschlossene Schiffe, erstarrte Kräne, tief verschneite Uferpromenaden. Ein anderes Photo zeigt eine Siedlung mit schönen Einfamilienhäusern, die handschriftlich mit Buchstaben gekennzeichnet sind: »Da haben wir gewohnt«, sagt Vater. »Das ist verrückt«, sag ich, »du in der Arktis, am
Jenissej
! Weißt du, dass ich auch schon dort war, nein, nicht zu deiner Zeit, nicht in Igarka. Aber am Ende des Flusses, wo er zur riesigen Bucht wird und in die Karasee fließt. In
Dikson
, dem legendären Polarort, er wird dir ein Begriff sein. Das war der Ausgangspunkt unserer letzten Arktisexpedition, 1995, von dort aus sind wir mit dem Hubschrauber nach Sewernaja Semlja vorgestoßen, dann ging es weiter nach Franz-Josef-Land und wieder zurück nach Dikson über Nowaja Semlja. Ich habe am Kap Tschelanija auf Nowaja Semlja am Strand gelegen, auf
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