Verführerisches Feuer
sollte, die ihr Halbbruder mit Drogen betäubt, vergewaltigt und geschwängert hatte. Sofort oder erst nachdem er sie gefunden hatte, denn suchen würde er sie auf jeden Fall. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen, etwas anderes ließen sein Ehrgefühl und sein Verantwortungsbewusstsein gar nicht zu. Nun, er würde in Ruhe darüber nachdenken und dann eine Entscheidung treffen.
1. KAPITEL
Annie rieb sich die Augen. Es waren große lang bewimperte veilchenblaue Augen, auf die jede Frau stolz gewesen wäre. Das Problem war nur, dass sie im Moment vor Müdigkeit wie Feuer brannten. Annie hob die Hand, um sich eine dicke Strähne ihres schulterlangen naturblonden Haars aus dem Gesicht zu streichen. Ihre Handgelenke waren so schmal, dass sie fast zerbrechlich wirkten. Normalerweise trug sie das Haar streng nach hinten gekämmt und im Nacken zusammengebunden, aber vorhin beim Baden hatte Ollie so lange mit seinen kleinen Händchen herumgefuchtelt und immer wieder danach gegrapscht, bis es sich aus dem Zopf gelöst hatte. Annie liebte ihren kleinen Sohn von ganzem Herzen. Ollie war ihr Leben, und sie war entschlossen, alles dafür tun, dass er behütet und in Sicherheit aufwachsen konnte. Alles.
Sie hatte den ganzen Abend gelesen. Lesen gehörte zu den Arbeiten, mit denen sie derzeit für sich und Ollie den Lebensunterhalt verdiente. Recherchetätigkeiten in freier Mitarbeit waren nicht sonderlich gut bezahlt, deshalb verdiente Annie längst nicht so viel wie in ihrem früheren Job, als sie fest angestellt für einen Drehbuchautor gearbeitet hatte. Tom war in Gehaltsfragen immer höchst großzügig gewesen. Und im Laufe der Zeit hatte sich, bedingt durch die gute Zusammenarbeit, zwischen ihm, seiner Frau und Annie eine echte Freundschaft entwickelt.
Annies Gesicht verfinsterte sich. Die Beleuchtung in ihrem winzigen Zweizimmerapartment war einfach zu schlecht für eine Tätigkeit, die so anstrengend war für die Augen.
Auf dem kleinen Klapptisch, an dem sie saß, lag neben ihrer Arbeit ein dünner Stapel Post, den man ihr an ihre neue Adresse nachgeschickt hatte, darunter auch ein Brief ihres Stiefbruders. Leise erschauernd warf Annie einen Blick über die Schulter, fast als würde sie befürchten, dass Colin plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihr stand.
Colin lebte in dem Haus, das eigentlich für sie bestimmt gewesen war, weil es ursprünglich ihrem verstorbenen Vater gehört hatte. Colin hatte es ihr weggenommen … ebenso weggenommen wie … Sie schüttelte den Kopf und schob den Gedanken an ihren Stiefbruder entschlossen beiseite. Jetzt bloß nicht an Colin denken .
Aber manchmal ging es nicht anders, allein schon wegen Ollies Sicherheit. Weil Colin ganz und gar nicht damit einverstanden gewesen war, dass sie sich geweigert hatte, Ollie zur Adoption freizugeben. Dabei hätte nichts, aber auch gar nichts auf der Welt sie je dazu bewegen können, sich von ihrem geliebten Sohn zu trennen. Nicht einmal Colins unablässige Versuche, ihr Schuldgefühle einzureden. Er hatte immer wieder behauptet, dass sie Ollie aus blankem Egoismus nicht hergeben wolle, obwohl jeder Mensch sehen könne, dass ihr Sohn bei einem in stabilen Verhältnissen lebenden gut situierten Ehepaar wesentlich besser aufgehoben wäre als bei ihr. Und Colin konnte sehr überzeugend sein, wenn er es darauf anlegte. Annies größte Befürchtung war es gewesen, dass er sich – wie früher so oft – Verbündete suchen könnte.
Würde sie jemals aufhören, sich ängstlich über die Schulter zu schauen, weil sie befürchtete, Colin könnte ihren derzeitigen Aufenthaltsort herausgefunden haben? Und es am Ende doch noch schaffen, ihr ihren Sohn wegzunehmen?
Wäre es nach ihr gegangen, hätte Colin überhaupt nichts von ihrer Schwangerschaft erfahren, aber Toms Frau Susie hatte geglaubt, ihr einen Dienst zu erweisen, indem sie sich, nachdem „es“ passiert war, mit Colin in Verbindung setzte. Mit „es“ umschrieb Annie in Gedanken die
Vergewaltigung durch Antonio Leopardi. Susie war überzeugt gewesen, Annie zu helfen, wenn sie Colin die ganze Geschichte offenbarte. Das hatte Annie schwer zugesetzt, aber es war noch schlimmer gekommen, als Colin ihr angeboten hatte, sie solle auf jeden Fall während der Schwangerschaft in seinem Haus wohnen. Dort würde sie alle Unterstützung erfahren, die sie brauchte. Susie und Tom waren irritiert gewesen, weil sie diesen Vor schlag so vehement
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