Verfuehrung
weiß man über ihre Jugend und den Beginn ihrer Karriere überhaupt nichts, bis auf das, was Casanova erzählt. Der erste immer noch erhaltene Bericht über einen Auftritt von ihr stammt aus London, wo sie am 10. Januar 1758 in Cocchis Zenobia sang. Als Charles Burney seine »musikalische Reise durch Europa« (so der Titel seines Buches) in den Jahren 1770 bis 1774 unternahm, dreißig Jahre nachdem Giacomo Casanova Angiola Calori am 18. Februar 1744 in Ancona begegnete, hörte er sie in Dresden singen und schrieb: »Die beste Sängerin in diesem ruhigen Pastorale war Sgra. Calori. (…) Ihre Stimme, ihre Triller und ihre Fertigkeit waren gut, ihre Person und Gesichtszüge wohlgemacht.«
Sie kehrte schließlich nach Italien zurück, trat noch bis 1783 auf und starb laut Groves »Dictionary of Music and Musicians« (erstmals 1878 erschienen und bis heute für die Musikwissenschaft das meistgerühmte Nachschlagewerk) 1790, acht Jahre vor Casanova, der 1798 auf Schloss Dux in Böhmen das Zeitliche segnete. Beide verließen eine Welt, die kaum mehr derjenigen glich, in welche sie geboren worden waren. Die Französische Revolution hatte Europa erschüttert und seine starre Standesgesellschaft langfristig verändert. Kastraten auf Opernbühnen waren dabei, gänzlich aus der Mode zu geraten, und die Opern wurden von Mozart und anderen Komponisten nunmehr Tenören und Sopranistinnen auf den Leib geschrieben. Die Adelsrepublik Venedig hatte ein Jahr vor Casanovas Tod unter Napoleon ihr offizielles Ende gefunden und war Österreich angegliedert worden. Casanova, der mehrfach Vermögen erworben und wieder verloren hatte und in Böhmen als Bibliothekar sein Alter fristete, war von dieser neuen Welt alles andere als begeistert. Es mag auch daran liegen, dass er die Welt seiner Jugend und seiner reifen Jahre mit einem so ungeheuer farbenprächtigen Detailreichtum schilderte.
Dabei unterliefen ihm durchaus auch Schnitzer, was bei Jahrzehnten Abstand zu den Ereignissen und ohne eine Möglichkeit, jemanden mit der Nachforschung von Details zu beauftragen, verständlich ist. Zum Beispiel nennt er als den Kastraten, der Bellinos Lehrer und ihre erste Liebe sowie 1744 bereits tot war, Felice Salimbeni, der jedoch erst 1751 starb, volle sieben Jahre nachdem Giacomo und Bellino sich begegneten. Heriot wies als Erster darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um eine Verwechslung zweier berühmter Kastraten handelte: Giuseppe Appiani alias Appianino, der im gleichen Jahr und am gleichen Ort wie Salimbeni geboren wurde, starb bereits 1742 und war nachweislich in Bologna.
Die Beliebtheit der großen Kastratensänger und der Status, den sie genossen, lässt sich gut mit den Rockstars unserer Zeit wie Elvis, Mick Jagger, Freddie Mercury oder Michael Jackson vergleichen, bis hin zu dem Groupie-Phänomen, von dem durchaus beide Geschlechter erfasst wurden. Dabei lag der Existenz von Kastraten jedoch ein drei Jahrhunderte lang währender skrupelloser Handel mit Kindern zugrunde, die von ihren oft armen Familien in der Hoffnung verkauft wurden, dass aus ihnen ein Farinelli würde. (Zwar war die Kastration offiziell sowohl durch das Gesetz als auch durch die Kirche in Italien verboten, aber da gerade das kirchliche Verbot von weiblichen Sängern in der Kirche die Kastratenmanie ausgelöst hatte und Kastraten zuallererst in Kirchenchören sangen, handelte es sich dabei um ein Verbot, das niemand zu beachten brauchte.) Das Verhältnis der Rokoko-Zeit zu Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen war weniger von Gefühl als von einer ungeheuren Pragmatik geprägt. Wenn sie ihre frühe Kindheit überlebten, was bei der hohen Kindersterblichkeit alles andere als selbstverständlich war, dienten sie vor allem der Altersvorsorge. Mütter wie Signora Lanti, die einen Sohn, den ursprünglichen Bellino, kastrieren ließ und ihre anderen Kinder später spendablen Gästen ins Bett schickte, waren eher die Regel als die Ausnahme. Wenn Giacomo Casanova mit zwölf Jahren erste sexuelle Erfahrungen mit einem älteren Mädchen sammelte und darüber in seinen Memoiren berichtete, schrieb er für ein Publikum, das dabei nicht »Missbrauch« dachte, wie wir das heute (zu Recht) tun würden. Da weder er noch Angiola Calori in die Sicherheit eines reichen oder adligen Heims geboren wurden, hatten sie wenig Zeit, um erwachsen zu werden.
Dabei erfanden sie sich beide ständig neu, was einer der Gründe war, warum mich ihre Geschichte so reizte. Bellino/Angiola
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