Verfuehrung
schaut sich mit Augen um, die so groß und geweitet sind wie die ihrer Mutter. Sie ist bereits sechs Jahre alt, was bedeutet, dass sie, anders als die Hälfte aller Geborenen, ihre Kindheit wohl überleben wird. Dottore Calori kann es sich deshalb gestatten, Zuneigung für sie zu entwickeln und Hoffnungen zu hegen. Sie hat eine rasche Auffassungsgabe, seine Angiola, plappert gerne darauflos und zeigt hierhin und dorthin. Einmal hat sie ihn schrecklich zum Lachen gebracht, als sie in Mailand einen österreichischen Soldaten imitierte, wie er mit wichtigem Gehabe durch die Gassen schritt, Tabak schnupfte und, nachdem er niesen musste, das deutsche Wort Gesundheit sagte, was Angiola garantiert nicht verstand und trotzdem richtig aussprach. Wenn sie klug ist, wird sie vielleicht Nonne werden. Ein Kind in der Kirche, das verschafft Ansehen, aber ihr zukünftiger Bruder wird natürlich im weltlichen Stand bleiben.
Angiola ist nicht das einzige Kind im Theater. Einige der kleinen Verkäufer, die Mandeln, Fächer und Orangen feilbieten, sind nicht älter als sie, und auch andere Familienväter scheinen ihren Nachwuchs mitgebracht zu haben. Zumindest nimmt Calori das an, bis ihm auffällt, dass ein hübsches Ding, das bestimmt nicht älter als elf Jahre alt sein kann und doch bereits Rot auf den Lippen und das Haar mit Schleifen hochgebunden und gepudert trägt, von dem Mann an seiner Seite höchst unväterlich am Hintern begrabscht wird. Er presst die Lippen zusammen und wendet sich hastig ab.
Mittlerweile haben er und seine Familie sich erfolgreich an den Spieltischen mit ihren klappernden Würfeln und den rauschenden Karten vorbeigedrängt, die Treppen zu den Rängen erklommen und die Loge gefunden, die ihnen der Herbergswirt bezeichnet hatte und für die sie bezahlt hatten. Eigentlich war er der Ansicht gewesen, dass weiterhin kein Geld aufzuwenden gewesen wäre, zumal der Herbergswirt ihnen unverschämterweise für seine zwei kleinen Räume eine halbe Zechine pro Woche berechnet hatte. Doch der Wegweiser, der Türaufschließer der Loge, ein weiterer, der weiche Polster bringt, der Nächste für sein Programm, jeder verlangt ein Trinkgeld, und wehe, es erscheint ihm nicht hoch genug. Ihre schimpfenden Stimmen vermischen sich, obwohl die Vorführung schon läuft, mit denen all der Bediensteten, welche Erfrischungen und Speisen in jeder nur denkbaren Form anbieten. Wie sich herausstellt, teilen sie die Loge mit einem Mann und zwei Damen, der sich als Bäcker bezeichnet und mit seiner Frau und deren Schwester da ist, auch wenn man nicht leicht unterscheiden kann, wen der Mann als Schwägerin und wen als Gattin behandelt. Andererseits dankt Calori dem Himmel, dass er die Loge nicht mit einer der vielen Kurtisanen teilen muss, die, wie man sich in Mailand erzählt, fast ein Fünftel der Stadtbevölkerung stellen.
»Zanetta spielt heute«, sagt die mutmaßliche Schwägerin mit atemlosem Kichern, »sie sieht phantastisch aus und singt großartig, man muss sie einfach gernhaben. Ist sie nicht wunderbar?«
Caloris eigene Gemahlin kämpft sichtlich damit, nicht zugeben zu wollen, dass sie keine Ahnung hat, wer »Zanetta« ist, jedoch für Auskünfte dankbar wäre, und weil er selbst in der Unwissenheit über irgendwelche venezianischen Komödiantinnen keine Schande sieht, erspart er ihr weiteren inneren Zwiespalt und fragt.
Zanetta, so stellt sich heraus, ist als singende Komödiantin schon so berühmt, dass sie gerade erst aus London zurückgekehrt ist, wo sie und die Truppe, die gerade eben die Bühne betritt, vor den Engländern gespielt haben, welche doch kein Wort der venezianischen Mundart verstehen. Ein Komödiendichter namens Goldoni habe eigens für sie ein Stück geschrieben, um sie wieder in Venedig willkommen zu heißen.
»Der edle Grimani wird’s schon bezahlen«, kommentiert der Bäcker mit einem Grinsen, und seine Begleiterinnen schnalzen mit den Zungen und kichern erneut. Auf diese Weise erfährt Calori, dass dieses Theater sich im Besitz eines venezianischen Senators namens Grimani befindet. Venedig wird immer verwirrender. In Mailand weiß man, dass kaum jemand hochmütiger ist und sich für etwas bedeutend Besseres hält als ein venezianischer Patrizier. »Die glauben sogar, sie scheißen golden«, hatte Caloris bester Freund einmal drastisch, aber bestimmt nicht übertrieben festgestellt. Wie vereinbart sich so ein Selbstbild bloß damit, so etwas Gewöhnliches wie ein Theater zu unterhalten?
»Wie darf
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