Verführung der Schatten
niedergelassen haben, weil es genug Brennmaterial für seine Schmiede gibt.“
Sie passierten ein erstaunlich gut erhaltenes Schild, auf dem stand: Prosperity, NWT, gegr. 1902, Bev. 333 .
Am Flussufer standen vierzig, fünfzig verlassene Gebäude, die sämtlich aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert zu stammen schienen. Dächer und Fassaden bestanden aus Holzschindeln. Sie wirkten sehr karg, erbaut im schmucklosen, fast gruseligen Stil der Quäker.
Obwohl nirgends Schnee lag, bedeckte eine kristallklare Eisschicht alles wie eine Glasur.
„Hier sieht es im wahrsten Sinne des Wortes aus, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Warum sind die Einwohner fortgezogen? War die Mine pleite?“
„Sie sind nicht fortgezogen“, sagte er ruhig und bog auf die Hauptstraße ein.
Da erst bemerkte sie, dass die Türen weit offen standen oder schief in den Angeln hingen. Sie erblickte ein antik wirkendes Fahrrad, das mitten auf der Straße lag, als ob jemand es in seiner Panik hingeworfen hätte.
„Cadeon, was hat das zu bedeuten?“
„Wendigos. Sie haben das Dorf angegriffen. Wie ich hörte, wimmelt es in diesen Bergen nur so von ihnen. Sie bilden eine Art natürliche Grenze für Groot.“
„Ich habe von ihnen gelesen. Wendigos waren früher Menschen, die dann zu Kannibalen wurden. Sie ernähren sich von Leichen. Sie essen sogar … lebende Menschen.“
Er nickte. „Sie sind mit den Ghulen verwandt, werden von einem niemals endenden Heißhunger auf Menschenfleisch angetrieben und sind hoch ansteckend, und das gilt selbst für andere Unsterbliche. Es reicht schon ein Biss oder ein Kratzer.“
„Wie?“
„Ein Toxin, das von Klauen und Fängen abgesondert wird.“
„Wie lange dauert die Wandlung?“
„Drei bis vier Tage“, erwiderte er. „Lange genug, dass das Opfer merkt, was geschieht, sich damit abfindet und entscheidet, was zu tun ist.“
„Was? Was ist denn zu tun?“
Statt einer Antwort deutete Cade auf eine hochgewachsene Birke am Straßenrand, von deren Ästen verwitterte Schlingen hingen.
„Sind die Wendigos nach all dieser Zeit denn immer noch hier?“
„Vermutlich schon. Sie können sich zur Not auch von Tieren ernähren.“
Sie näherten sich der Kirche.
„Ist es das, was ich denke, da auf der Kapelle?“
Das Gebäude wirkte unheimlicherweise immer noch makellos, zumindest von der Seite. Doch die Fassade war bis zu einer Höhe von wenigstens fünf Metern mit rötlichen Farbspritzern bedeckt.
Er nickte. „Es ist Blut.“
„Oh Gott …“
„Die Dorfbewohner, die noch am Leben und nicht infiziert waren, haben sich vermutlich in der Kirche verbarrikadiert. Die Fenster sind von innen mit Brettern vernagelt.“
Die Eingangstüren hingen schief in den Angeln. Dahinter konnte Holly aufeinandergestapelte Kirchenbänke erkennen. Sie konnte sich die Szene nur allzu deutlich ausmalen. Sobald die vordere Blockade durchbrochen worden war, saßen die Menschen in der Kirche in der Falle, hinter ihren eigenen Verteidigungsmaßnahmen. Die Wendigos hatten die schreienden Dorfbewohner vermutlich hinausgeschleppt und sie der wartenden Meute vorgeworfen …
„Cadeon, auch wenn ich nicht mehr zum Menschen werden will, bin ich dir dankbar, dass du mich hergebracht hast.“
„Wie das?“, fragte er in scharfem Ton.
„Für den Fall, dass du mich zur Rückendeckung brauchst“, sagte sie. Sie runzelte die Stirn, als sie sah, wie sich seine Hände um den Lenker verkrampften.
Doch als sie fragen wollte, was denn los wäre, sagte er: „Da ist Groots Festung.“
Als der Nebel sich lichtete, erhaschte sie einen Blick auf einen wunderbaren Wasserfall, der über einhundert Meter hoch sein musste. Gleich darüber stand eine Burg, die am Rande des Wasserfalls errichtet worden war.
Fünf Türme vereinigten sich zu einem zentralen Wohnturm über dem Wasser. Darüber erhob sich ein riesiger Kamin aus Stein, der grauen Rauch ausstieß. Selbst aus dieser Entfernung war die gewaltige Schmiede zu sehen.
„Darum ist der Fluss nicht gefroren und darum der ganze Nebel“, sagte er. „Das Wasser wird aufgeheizt …“
„Cadeon!“ Sie schluckte. „Ich glaube, ich habe gerade etwas über diese Seitenstraße laufen sehen.“
42
Cade hatte sie ebenfalls gesichtet. Wendigos jagten in Rudeln – und sie pirschten sich gerade an sie heran.
„Verfolgen sie uns immer noch?“, fragte sie und blickte sich wild um.
„Jep.“
Die Straße führte weiterhin die Böschung hinauf, sodass sie immer höher und
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