Verfuhrt auf dem Maskenball
leisten. An einem Tisch, der Platz für vierzig Personen bot, saßen sie einander gegenüber. Die Atmosphäre war seltsam kalt in einem so großen Raum, an einem so langen Tisch, allein mit ihrer Schwester. Nicht zum ersten Mal ließ Lizzie den Blick über die endlose Tafel gleiten. Obwohl keine weiteren Gedecke aufgelegt waren, hatte man wohl ein Dutzend Blumengebinde darauf verteilt, und Lizzie konnte sich mühelos vorstellen, wie der Tisch mit Kristall und vergoldetem Geschirr gedeckt war.
„Sie müssen hier häufiger Gäste empfangen haben, als Dublin noch der Sitz der irischen Regierung war“, flüsterte Georgie. Den ganzen Abend schon hatten sie sich im Flüsterton unterhalten, und das nicht wegen des Lakaien, der an der Wand hinter Lizzie bereitstand. Ihre leisen Stimmen hallten von den Wänden wider. „Ehe der Act of Union alle nach London versetzte.“
„Ich fühle beinah die Gegenwart all der irischen Lords und Ladys“, flüsterte Lizzie zurück. „Die Männer in ihren gepuderten Perücken, Kniehosen, langen Strümpfen und Fräcken, die Ladys mit ihren hoch aufgetürmten Frisuren und den schimmernden Satinabendkleidern. Zu der Zeit muss der Earl noch ein kleiner Junge gewesen sein, nicht viel älter als Ned.“ Sie fragte sich, ob Tyrell sich schon bald für den Abend zurückziehen wollte. Ihr Herz schlug schneller. Sie konnte es kaum erwarten, wieder in seinen Armen zu liegen.
„Es wäre sicher interessant gewesen, an so einem Abend mit intellektuellen Gesprächen und politischen Debatten teilzunehmen“, meinte Georgie. „In jenen Tagen war Dublin sehr en vogue . Ich frage mich, worüber wohl hier in diesem Zimmer gesprochen worden ist. Ob man hier über die Verdienste der Union gesprochen hat? Die ersten Aufstände der Jakobiner oder den Fall Frankreichs? Den Verlust der Kolonien oder die Bostoner Tea-Party? Ist es denn möglich, dass wir wirklich hier sind?“
Lizzie schüttelte den Kopf. „Ich frage mich auch schon, ob ich wohl aufwachen und feststellen würde, dass ich geträumt habe, wenn ich mich jetzt kneife.“ Sie versuchte, über den Tisch hinweg die Hand ihrer Schwester zu berühren, aber das war unmöglich. „Ich bin müde.“ Das entsprach ganz und gar nicht der Wahrheit, und sie errötete bei diesen Worten. „Ich denke, ich werde nach Tyrell sehen und mich dann in meine Gemächer zurückziehen. Es macht dir doch nichts aus?“
Georgie versuchte nicht einmal, ihr wissendes Lächeln zu unterdrücken. „Du hast so ein Glück! Ich weiß, dass du nicht ordnungsgemäß verheiratet bist, aber du hast alles, wovon du jemals geträumt hast – und, Lizzie, ich glaube, er liebt dich.“
Lizzie umklammerte die Kanten des Tisches und hoffte so sehr, dass Georgie recht haben möge. „Das bezweifle ich.“
Georgie presste die Lippen zusammen. „Ich freue mich so sehr für dich“, sagte sie dann.
Lizzie wandte sich an den livrierten Diener. „Bernard?“ Seinen Namen hatte sie erfahren, als sie sich zu Tisch gesetzt hatte. „Würden Sie mir bitte eine Schüssel mit der Schokoladencreme bringen, die ich vorhin bereitet habe?“
„Jawohl, Madam.“ Er verneigte sich und eilte hinaus.
Georgie sah sie an.
Lizzie lächelte. „Wenn Tyrell Schokolade möchte, die ich zubereitet habe, so soll sein Wunsch mir Befehl sein.“
Georgie kam um den Tisch herum und gab Lizzie einen Kuss auf die Wange. „Ich wünsche dir einen schönen Abend.“
„Schlaf gut“, erwiderte Lizzie liebevoll. Dann ging Georgie hinaus, und sie blieb allein in dem weitläufigen Raum zurück.
Aber sie stellte fest, dass sie sich nicht wirklich allein fühlte, und sah sich gründlich um. Das Haus war nicht sehr alt, aber es hatte seinen Teil der Geschichte gesehen, und aus irgendeinem Grund wirkte das Zimmer nicht verlassen. Lizzie fragte sich, ob sie hier mit den Geistern von Tyrells Vorfahren zusammen saß. Sollte das der Fall sein, so fürchtete sie sich nicht, denn trotz seiner Größe wirkte der Raum sehr heimelig und beinah vertraut. Sie stand auf und betrachtete die verschiedenen Porträts, die an den holzvertäfelten Wänden hingen. Sie vermutete, dass es sich durchweg um Vorfahren der de Warennes handelte, und ein Porträt im Besonderen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Lizzie trat näher.
Das Porträt war sehr alt. Lizzie schloss das aus dem Schnitt des Kleids und der stilisierten Art zu malen – der Mann auf dem Bild erschien zweidimensional. Trotzdem sah er Tyrell so ähnlich, dass es ihr den Atem
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