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Vergessene Stimmen

Titel: Vergessene Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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Einladung. Dann legte er den Stift beiseite und richtete einen Finger auf Bosch. Sein Blick bekam etwas Eindringliches.
    »Hören Sie zu, Bosch. Brechen Sie nie das Gesetz, um das Gesetz durchzusetzen. Sie verrichten Ihren Dienst immer und zu jeder Zeit mit Mitgefühl und im Einklang mit der Verfassung. Alles andere dulde ich nicht. Alles andere duldet diese Stadt nicht. Sind wir uns da einig?«
    »Da sind wir uns einig.«
    »Dann wäre das also geklärt.«
    Bosch verstand das als Aufforderung zu gehen und stand auf. Zu seiner Überraschung erhob sich auch der Chief und streckte die Hand aus. Bosch dachte, er wolle ihm die Hand schütteln und streckte auch seine aus. Doch der Chief drückte ihm etwas in die Hand, und als Bosch darauf hinabblickte, sah er die goldene Dienstmarke eines Detective. Er hatte seine alte Nummer wieder bekommen. Sie war nicht vergeben worden. Fast musste er lächeln.
    »Tragen Sie sie in Ehren«, sagte der Chief. »Und voll Stolz.«
    »Das werde ich.«
    Jetzt schüttelten sie sich die Hand, doch der Polizeichef lächelte nicht, als sie es taten.
    »Der Chor vergessener Stimmen«, sagte er.
    »Wie bitte, Chief?«
    »Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich an die Fälle dort unten in Offen-Ungelöst denke. Es ist ein Horrorkabinett. Unsere größte Schmach. Diese vielen Fälle. Diese vielen Stimmen. Jede von ihnen ist wie ein Stein, der in einen See geworfen wurde, und die Wellen, die er schlägt, pflanzen sich durch Zeit und Menschen hindurch fort. Familienangehörige, Freunde, Nachbarn. Wie können wir uns eine Stadt nennen, wenn es so viele Wellen gibt, wenn so viele Stimmen von dieser Behörde vergessen worden sind?«
    Bosch ließ die Hand des Chief los und sagte nichts. Auf seine Frage gab es keine Antwort.
    »Als ich zum LAPD kam, habe ich den Namen der Einheit geändert. Das sind keine kalten Fälle, Detective. Sie werden nie kalt. Zumindest für manche Leute nicht.«
    »Das ist mir klar.«
    »Dann gehen Sie jetzt da runter und lösen Fälle. Davon verstehen Sie etwas. Deshalb brauchen wir Sie und deshalb sind Sie hier. Deshalb lasse ich es auf einen Versuch mit Ihnen ankommen. Zeigen Sie ihnen, dass wir nicht vergessen. Zeigen Sie ihnen, dass in Los Angeles keine Fälle kalt werden.«
    »Das werde ich.«
    Damit ging Bosch, während der Polizeichef weiter stehen blieb, fast so, als wollten ihn die Stimmen noch nicht ganz loslassen. Genauso wenig wie ihn. Bosch dachte, vielleicht zum ersten Mal auf einer bestimmten Ebene einen Draht zu dem Mann an der Spitze gefunden zu haben. Beim Militär heißt es, dass man für die Männer, die einen befehligen, in die Schlacht zieht und kämpft und zu sterben bereit ist. Dieses Gefühl hatte Bosch nie gehabt, wenn er in Vietnam durch das Dunkel der unterirdischen Gänge gekrochen war. Er hatte das Gefühl gehabt, ganz auf sich gestellt zu sein und nur für sich und sein Überleben zu kämpfen. Das hatte er in den Polizeidienst mit herübergenommen, und manchmal war er sogar zu der Ansicht gelangt, dass er trotz der Männer an der Spitze kämpfte. Jetzt würde das vielleicht anders werden.
    Draußen auf dem Flur drückte er fester auf den Knopf des Aufzugs, als nötig war. Er war aufgeputscht, und er kannte auch den Grund dafür. Der Chor vergessener Stimmen. Der Chief schien das Lied zu kennen, das sie sangen. Und er kannte es mit Sicherheit auch. Er hatte den größten Teil seines Lebens damit zugebracht, diesem Lied zu lauschen.

 
     
     
     
     
     
     
     
     
    2
    Bosch fuhr mit dem Aufzug nur eine Etage tiefer in den fünften Stock. Auch das war Neuland für ihn. Der fünfte war immer eine Zivilistenetage gewesen. In erster Linie befanden sich dort Büros des mittleren und unteren polizeilichen Verwaltungsdiensts, und in den meisten saßen nicht vereidigte Angestellte, Etatleute, Analysten und Schreibtischhengste. Zivilisten eben. Bis zu diesem Moment hatte für ihn kein Anlass bestanden, in den fünften Stock zu kommen.
    Im Bereich vor dem Aufzug gab es keine Hinweisschilder, wie man zu den einzelnen Büros kam. Es war die Sorte Stockwerk, in dem man, schon bevor man aus dem Lift stieg, wissen sollte, wohin man ging. Nicht so Bosch. Die Flure dieser Etage bildeten ein H, und er ging zweimal in die falsche Richtung, bevor er endlich die Tür mit der Nummer 503 fand. Sonst stand nichts auf der Tür. Er zögerte, bevor er sie öffnete, und dachte kurz nach, was er da tat und worauf er sich einließ. Er wusste, es war das Richtige. Fast war

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