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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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besserwisserisch und lasse sich nichts von ihm sagen. Er fühle sich durch ihr ständiges ›Greteltschik, Greteltschik‹ genervt und glaube, dass es auch Gretel auf den Wecker gehe.
    »Vielleicht ist Gabija ja nur deswegen so energisch, weil dunicht sagst, wo es langgeht«, versuche ich eine Erklärung. »Sie überspielt ihre Unsicherheit und markiert dabei selbst den Chef. Wie siehst du es denn mit dem Füttern?«
    »Nun ja, ich denke, wir sollten Gretel nicht dazu zwingen, und ihr einfach das geben, was sie noch annimmt. Wir wollen ein Wunder ja auch nicht ausschließen, oder?«
    »Gut, aber was passiert, wenn Gretel sich wieder verschluckt? Hast du mit dem Hausarzt gesprochen? Traust du dir zu, Gretel abzusaugen, wenn sie Atemnot hat? Wenn wir nicht aufpassen, ist sie nämlich ganz schnell wieder im Krankenhaus. Und wenn du auf ein Wunder hoffst, solltest du vielleicht auch selbst daran arbeiten.«
    »Na, dann werde ich mir heute am Valentinstag eben einen Ruck geben«, bemerkt er mit leichtem Zynismus, während er seinen Bleistift zur Seite legt. »Und mich ausnahmsweise einmal wirklich um meine Frau kümmern – einmal ganz für sie da sein!«
    Als Ehemann, der sich seit sechs Jahren um seine kranke Frau kümmert, und ihr ständig Blumen aus dem Garten bringt, muss ihm so etwas wie Valentinstag ja auch komisch vorkommen. Während der nächsten paar Stunden versucht er, Gretel ein Tässchen Hühnerbrühe einzuflößen. Doch sie hält den sonst ständig geöffneten Mund fest verschlossen wie in stummem Protest. Er küsst und streichelt sie, aber sie lässt sich nur ganz selten erweichen, ihre Lippen einen Spaltbreit zu öffnen. Je eindringlicher Malte sie auffordert, desto fester verschließt sie sich. Irgendwann gibt er es auf und streichelt sie einfach nur noch. Da entspannt sich Gretel und öffnet den Mund, um zu sagen:
    »Ist er aber angenehm.«
    Als Jürgen, der Pfleger von der Diakonie, eintrifft, um Gretel zu versorgen, klagt mein Vater, ihm sei es nicht einmalgelungen, ihr ein Viertelgläschen von der Brühe zu verabreichen: »Das sind doch nur ein paar Moleküle. Wie soll sie da überleben?«
    Jürgen wendet sich an Gretel und fragt laut:
    »Wie geht’s?«
    »Nichts gegessen«, erwidert sie düster.
    Jürgen blickt auf den Beutel des Blasenkatheters, der seitlich am Bett hängt: unerbittliche Anzeige der spärlichen Ausbeute. Ihr Urin ist zudem auffällig dunkel.
    »Das ist ein Zeichen von Dehydrierung. Klar, dass das passiert«, sagt Jürgen, leicht sächselnd. »Was hier passiert, ist palliativ, nicht kurativ. Endstadium Demenz. Das wird von Tag zu Tag weniger werden.«
    Während er zusammen mit Gabija meine Mutter wäscht und ihre Wunde versorgt, frage ich den Pflegeprofi nach der Situation bei uns hier zu Hause. Jürgen findet, bei einem so fortgeschrittenen Fall von Demenz habe es keinen Sinn, den ambulanten Pflegedienst aufzustocken und dreimal täglich jemand kommen zu lassen. Die Pfleger hätten ja immer nur zwanzig Minuten Zeit, trotzdem koste das dann über 1200 Euro im Monat und fresse das ganze Pflegegeld auf. Und sämtliche Arbeit drumherum müsse ja trotzdem gemacht werden. Das könne einem kein Pflegedienst abnehmen. Mit einer festen häuslichen Hilfe wie Gabija sei es viel besser. Klar müsse täglich ein Profi die Wunden versorgen, aber die Grundpflege könne Gabija schon sehr gut allein bewältigen.
    »Gibt es denn eine Beratungsstelle, die uns sagen kann, ob wir alles richtig machen?«, frage ich ihn.
    Er schüttelt den Kopf: »Nein, nicht dass ich wüsste. Das ist eine Phase, wo man im Grunde keine richtige Beratung mehr bekommen kann, sondern von Tag zu Tag sehen muss, was am besten ist.«Als ich am Nachmittag auf dem Weg nach Berlin im Frankfurter Hauptbahnhof den Zug verpasse, schlendere ich durch eine Buchhandlung, und mir fällt zufällig ein aktueller Bestseller in die Hand: ›Über das Sterben‹ von dem Palliativmediziner Gian Domenico Borasio. Ich kaufe das Buch und lese es auf der Fahrt durch. Darin bestätigt sich eigentlich alles, was wir unabhängig von den behandelnden Ärzten im Krankenhaus erfahren haben, und es untermauert unsere Entscheidung gegen die Ernährungs-Sonde. Vor allem interessieren mich die Passagen, in denen ausgeführt wird, warum ein Tod durch Verhungern oder Verdursten für einen alten und sterbenskranken Menschen nicht qualvoll sein muss. Wenn es auf das Ende zugehe, sei es nämlich gar nicht angenehm, wenn man die gleiche Menge Nahrung und

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