Vergiss mein nicht (German Edition)
plötzlich ungeniert ihre Gefühle. Sie reagierte sogar offenkundig eifersüchtig. Malte berichtete mir, wie Gretel eine Zeit lang seine Telefongespräche mit anderen Frauen »sabotierte« oder ihn argwöhnisch überwachte, als er einer Untermieterin Blumen aus dem Garten aufs Zimmer brachte.
Aber erst als mein Vater vor anderthalb Jahren begann, die Tagebücher meiner Mutter zu lesen, wurde ihm klar, dass sie auch früher derartige Gefühle gehabt, sie ihm nur nie offenbart hatte. »Gretel war eigentlich ein sehr verschlossener Mensch«, erzählt mir Malte während einer dieser offenen Vater-Sohn-Gespräche, die sich seit Gretels Erkrankung zwischen uns eingebürgert haben. »Sie hat nie gesagt: ›Jetzt bin ich traurig oder jetzt bin ich so und so und in solcher Stimmung.‹ Sie hat aber immer sehr darauf geachtet, was für Stimmungen andere Leute haben. Jetzt mit ihrer Demenz sagt sie Sachen, die sie früher nie so direkt geäußert hätte.«
»Und würdest du sagen, dass Euer Beziehungskonzept gut geklappt hat?«
»Für mich ja, für Gretel nicht.«
»Aber sie war doch einverstanden mit der ›offenen Ehe‹?«
»Vielleicht war sie einverstanden, aber es war trotzdem nicht richtig. Sie hat nicht die Liebe gekriegt, die sie verdient hat. Ich hatte mehrere Beziehungen zu anderen Frauen, und Gretel – nun ja, das war ungleichgewichtig. Ich dachte einfach,wenn sie nicht protestiert, dann mache ich das. Aber es war unrecht, sowohl ihr als auch den anderen Frauen gegenüber, weil die immerzu gehofft haben, dass ich mich von Gretel trenne, auch wenn ich im Grunde nie wirklich daran gedacht habe. Und so habe ich den anderen Frauen Zeit gestohlen, in der sie sich einen richtigen Partner hätten suchen können, den sie heiraten und mit dem sie Kinder hätten haben können. Ich wollte auch nie mit anderen Frauen noch einmal Kinder haben. Das hätte ich Gretel nicht angetan.«
»Wie hat sie denn eigentlich auf deine Freundinnen reagiert?«
»Meine letzte Affäre war eine Norwegerin. Ich hatte ein Forschungssemester in Bergen, wo ich sie getroffen habe, eine Malerin, viel jünger. Ich war tüchtig in den 50ern, und sie noch in den 20ern. Da hat Gretel gesagt: ›Wenn ich einmal tot bin, kannst du die heiraten.‹«
Schweigend trinken wir beide unser Bier aus.
»Ich habe Gretel lange Zeit sehr alleingelassen«, fährt mein Vater mit seiner Lebensbilanz fort. »Die letzten zehn Jahre vor ihrer Erkrankung haben wir aneinander vorbeigelebt. Wir haben uns auch kaum noch richtig unterhalten. Anstatt mit ihr etwas zu unternehmen, dachte ich: Ist doch toll, dass sie alleine verreist! Ich wollte ihr unbedingt meine geistreichen Wortspiele und philosophische Reflexionen vermitteln, während sie mir mit ihrem Spiegel- Wissen kam, das mich völlig kalt ließ. Ich habe mich lange Zeit darüber geärgert, dass Gretel nachts in ihrem Zimmer immer das Radio laufen ließ. Ich verstand nicht, dass sie sich einsam fühlte. Jetzt empfinde ich Liebe für Gretel, wie ich sie früher nicht empfunden habe.«
Einen Moment lang schweigt er und atmet tief durch. Dann sagt er: »Eigentlich bin ich der Demenz dankbar. Dafür, dass ich die Liebe neu entdeckt und erkannt habe, wie schön es ist, für jemanden da zu sein.«
Kapitel 15
Die Amsel
Heute ist Valentinstag. Mein Vater lässt sich nicht blicken. Gabija ist damit beschäftigt, meiner Mutter Babynahrung einzuflößen, und redet dabei lauthals auf sie ein:
»Greteltschik, Greteltschik, du bitte machen Mund auf!«
Ich entdecke Malte schließlich in seinem Zimmer. Finsterer Mine sitzt er mit Bleistift und Papier auf seinem Bett und macht Mathematik, eine Schreibunterlage auf den Knien.
Eine gute Freundin meiner Eltern, die einen Kollegen meines Vaters geheiratet hat, erzählte mir einmal, dass Malte und ihr Mann sich in der politisch aufgewühlten Zeit 1968 gerne an der Uni in »ihre Formeln zurückzogen«, statt auf die Straße zu gehen. Etwas Ähnliches passiert wohl auch jetzt, geht es mir durch den Kopf.
»Malte, ich bin jetzt schon über einen Monat hier«, spreche ich ihn an. »Heute ist Valentinstag, und ich will zu meiner Freundin nach Berlin fahren. Du bist hier der Boss und musst dir überlegen, wie du das mit Gretels Ernährung handhaben willst. Man sollte Gabija damit nicht allein lassen. Vielleicht ist sie beim Füttern auch etwas zu ehrgeizig.«
Mein Vater seufzt und erklärt, dass er gerade große Schwierigkeiten mit der Situation habe. Gabija sei ihm gegenüber
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