Vergiss mein nicht (German Edition)
aus man Gretel im Auge behalten kann. Wir reden darüber, ob das zweite Schmerzpflaster schon anschlägt, und ob wir vielleicht sogar noch ein drittes verabreichen sollten, um Gretels Atem zu beruhigen. Oder sollen wir den Arzt rufen? Da sagt Gabija: »Pst! – Gretel Atem jetzt besser?« Ich zähle im Geist mit: »Einatmen – 21 – 22 – Ausatmen – 23 – 24 ...« Tatsächlich! Ihr Atem ist viel ruhiger geworden. Gott sei Dank! Erleichtert halten wir unsere Dreitropfen-Wodka-Zeremonie ab. Das ›Wässerchen‹ brennt mir wohlig in der Kehle, und ich beginne, an ganz alltägliche Dinge wie das Abendessen zu denken.
Malte will Gemüse machen, und ich gehe los, um noch Salat zu kaufen. Ich lande in einem ›biologischen‹ Supermarkt, der viel zu viel Auswahl hat. Ich kann mich nicht entscheiden. Minutenlang vergleiche ich die Preise und vertrödle die Zeit, sinniere über das Wort ›Kopfsalat‹, das mich auf ›Vokabelsalat‹ bringt, ein guter Ausdruck für das, was ich manchmal mit Gretel beim Essen erlebt habe.
So! Jetzt muss ich mich aber entscheiden: Eisbergsalat, Chicorée, Feldsalat oder Rucola? Gretel mochte doch diesen roten, bitteren, wie heißt der noch – Endivien? Nein, Quatsch: Radicchio – genau! Den mischte sie dann gerne mit einem grünen Salat. Von meiner Mutter habe ich auch gelernt, eine Balsamico-Senf-Soße zu machen, eigentlich das Einzige, womit ich in der Küche bei meiner Freundin Begeisterung auslöse. Schade, ich hätte Gretel gerne mal gezeigt, wie ich ihr Soßen-Rezept mit Honig oder Marmelade anstatt Zucker weiterentwickelt habe. Gibt es noch Nüsse zu Hause?
An der Kasse fällt mir ein, dass wir noch Tomaten brauchen, und ich laufe zurück zum Gemüse. Nachdem ich endlich bezahlt habe und dabei bin, die Tüten zu packen, erreicht mich der Anruf meiner Schwester. »David, kommst du schnell nach Hause?«, fragt sie weinend. Ich beeile mich, verfalle in der Fußgängerzone aus meinem schnellen Schritt-Tempo immer wieder in einen leichten Dauerlauf. Es ist kalt und die Einkaufstüte schneidet mir in die Finger. Soll ich die Tüten stehen lassen und losrennen? Warum hat meine Schwester mir nicht gesagt, was los ist, und warum habe ich sie nicht gefragt? Weil es eigentlich klar ist: Gretel liegt im Sterben, und wenn ich mich nicht beeile, ist es zu spät.
Ich biege in unsere Straße, sehe die Kirche in unserer Nachbarschaft und die Häuser, an denen ich schon so oft vorbeigelaufen bin: Alles sieht unverschämt normal aus – auch unser Haus macht von außen einen ganz unauffälligen Eindruck. Kein Mensch würde ahnen, welches Drama sich darin gerade abspielt. Ich schließe die Tür auf und stürze die Stufen hinauf. Durch den Luftzug verlöscht flackernd die Kerze auf einer Kommode im Treppenhaus. Als ich durch die Wohnungstür komme und um die Ecke ins Wohnzimmer biege, ist mir sofort klar: Es ist passiert.Meine Schwester weint, mein Vater hat die Hände vorm Gesicht, Gabija starrt leer vor sich hin, und Gretel liegt bewegungslos da. Sie hat ausgehaucht, ihren letzten Atemzug gemacht – unglaublich, denke ich: Wir atmen nur so und so oft in unserem Leben ein und dann irgendwann ein letztes, finales Mal aus. Draußen singt eine Amsel auf dem Balkon. Meine Schwester kommt mit rot verheulten Augen auf mich zu: »Sie hat gewartet, bis du weg warst.« Auch mir schießen Tränen in die Augen: Seit Wochen bin ich Tag und Nacht da, und ausgerechnet, wenn ich kurz zum Salatkaufen weg bin, geht meine Mutter einfach – für immer.
Hat sie tatsächlich gewartet, bis ich aus dem Haus war, um mir den Abschied nicht so schwer zu machen? Ich trete an Gretels Bett und fasse ihre Hand. Sie ist noch warm. Das macht es noch unwirklicher, dass meine Mutter nicht mehr atmet. Ihr Mund steht weit offen, irgendwie scheint es, als lächle sie und wolle sagen: »Puh – es ist geschafft!« Draußen auf dem Balkon singt die Amsel munter ihr Lied weiter.
Gretel hatte mir einmal eine Kurzgeschichte von Robert Musil gegeben, ›Die Amsel‹. Am Ende der Geschichte, in der immer wieder eine Amsel auftaucht, spricht der Vogel plötzlich zur Hauptfigur und sagt: »Ich bin deine Mutter.«
Ich stelle mir vor, dass der Vogel auf dem Balkon jetzt Gretels Seele mitnimmt in eine andere Welt.
Jetzt ist sie frei, kein Röcheln, kein Stöhnen und Klagen mehr.
Stunden später bin ich vom Weinen ganz ausgetrocknet und stehe auf. Wieder berühre ich die Hand meiner Mutter. Sie ist jetzt ganz kalt geworden. Mir fährt
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