Vergiss mein nicht (German Edition)

ein Schauer über den Rücken und ich wende mich ab. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Gretels alte Schulaufsätze herum. Ich schlage eines der Hefte auf und stoße zufällig auf den Titel ›Ein Gang durch denschweigenden Winterwald‹, ein Aufsatz, den sie als 15-Jährige verfasst hat. Beim Lesen habe ich das Gefühl, als hätte meine Mutter die Geschichte damals Anfang der 50er für mich geschrieben, um mir heute in dieser kalten Februarnacht Trost zu spenden:
    ... Es ist, wie wenn am Eingang des Waldes eine kleine Tafel stünde, durchaus nicht für jeden sichtbar: Tritt ein, aber schweige! Ich finde es merkwürdigerweise gar nicht schwer, zu schweigen – auch, oder besonders, innerlich. Ich, die ich es liebe, viel zu viele Worte zu machen. Ruhig schlafen die Bäume unter ihrer Last, große wie kleine; man darf sie nicht stören ... Eigenartig ist, dass trotz des vielen Weiß, das ja eine tote Farbe ist, der Wald nicht blendend, kalt oder gestorben ist, sondern angenehm halbdunkel und warm. Ganz auffallend wirken jetzt kleine und kleinste Dinge. Dies winzige Tüpfelchen Rot dort, von der Hagebutte, ist gar nicht wegzudenken, kein noch so unscheinbares Moospolster, kein dunkler Riss in der Rinde, kein Vogeltritt darf weggenommen werden. Der Schnee auf den Ästen drückt die Bäume zu Boden und bringt sie mir näher; er schafft Brücken und Tore über den schmalen Weg, er macht die starren Senkrechten der jungen Bäume weich. Es fällt mir auf, dass ich weder das leise Rascheln von Tiertritten hinterm Gestrüpp, noch den hellen Vogelsang vermisse, und trotzdem ist Leben in allem, aber es ist, wie wenn alles den Finger an den Mund legte: Die großen Bäume – der alte Felsblock – die Spitzen der Gräser, die der Winter nicht zugedeckt hat, und sogar der kleine Vogel dort auf dem Erlenzweig. Ja, wenn ich sehr still bin, kommt die Waldes-Winterruhe auch über mich, und vielleicht wird sie mich das kleine Stückchen Wegs nach Hause begleiten.