Vergiss mein nicht!
von sich weg. »Er verlässt den Sektor? Wieso? Wird er für die Sicherheit arbeiten?«
»Ich ...« Ich war zu erschüttert gewesen, um ihn zu fragen, was er in der Außenwelt tun würde. Die meisten Leute verließen den Sektor nur, um seine Existenz geheim zu halten – sie spürten draußen Lecks auf, registrierten Schäden, löschten Erinnerungen. Einige verließen den Sektor allerdings, weil ihnen eine höhere Position angeboten wurde; sie arbeiteten als Informanten und hielten uns über die Welt außerhalb der Mauern auf dem Laufenden. Nur ganz wenige gingen, weil sie sich in die Welt der Normalen eingliedern – im Grunde genommen verschwinden wollten. Ich hatte keine Ahnung, zu welcher Kategorie mein Vater gehörte.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber du könntest mit ihm gehen?«
Ich nickte.
»Nein. Das kannst du nicht machen! Du kannst nicht einfach gehen. Du wirst es da draußen hassen. Wann hast du dich überhaupt das letzte Mal mit Normalen befassen müssen?«, fragte sie und stemmte ihre Hand in die Hüfte; mit der anderen fuhr sie sich über die Stirn.
»Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Jahre.«
Ich konnte mich ganz genau daran erinnern. Ich war acht gewesen. Wir hatten tonnenweise Formulare ausfüllen und eine Menge Eide ablegen müssen. Alles nur für einen Wochenendausflug nach Disneyland. Es war voll gewesen. Alles hatte so normal gewirkt. Sämtliche Karussells und Achterbahnen waren total veraltet und das Feuerwerk war ein Witz im Vergleich zu den Lichtfestivals der Illusionisten gewesen. Meine Eltern hatten sich die ganze Zeit gestritten.
»Das ist so was von unfair.« Sie lotste mich zum Bett. Wir setzten uns mit dem Rücken ans Kopfende. Laila streifte ihre Schuhe ab und drehte sich zu mir. »Du bleibst also, oder? Sonst müsstest du die Schule verlassen und alle deine Freunde ... und mich.«
Ich hatte noch gar nicht angefangen, mir über die Einzelheiten Gedanken zu machen, die die eine oder andere Wahl nach sich ziehen würde, aber sie hatte recht.
»Lotest du die Alternativen aus?«
»Ich muss mir eine Liste machen. Was spricht dafür, was dagegen.« Ich sprang vom Bett, holte ein Heft und einen Stift aus meinem Schreibtisch, schlug eine leere Seite auf und zog von oben nach unten eine Linie durch die Mitte. Dann setzte ich mich auf die Bettkante, den Stift in der Hand. Das Schweigen zog sich in die Länge, als ich auf die Seite starrte und versuchte, einem Weggang aus dem Sektor irgendetwas Positives abzugewinnen.
Beim Schreiben des ersten Wortes verkrampften sich meine Schultern, weil ich genau wusste, dass dem nichts mehr hinzuzufügen war. Dad . So gesehen schien die Wahl einfach zu sein: Entweder einen Menschen verlieren oder alle und alles. Aber allein der Gedanke, meinen Dad zu verlieren, machte mich so traurig, dass ich Bauchschmerzen bekam. Er war mein Fels. Der ruhende Pol in meinem Leben. Ich knabberte an meinem Daumennagel. Es war ja nicht so, dass ich meinen Dad nie wiedersehen würde. Natürlich würde er zu Besuch kommen und ich könnte ihn in der Norm-Stadt besuchen, in die er ziehen würde.
Immer wieder zog ich jeden einzelnen Buchstaben nach, bis das Wort Dad pechschwarz und fett auf der Seite stand. Als ich dem D gerade noch einen weiteren Strich verpassen wollte, griff Laila nach meiner Hand. »Addie, du musst die Alternativen ausloten. Das wird dir helfen.«
Sie nahm mir das Heft weg und legte es neben uns aufs Bett. »Wie lange?«
Bobby und seine Einladung zum Ball war die längste Sache gewesen, die ich ausgelotet hatte. Er hatte mich eine Woche vor dem Ball gefragt, und weil ich mich dafür entschieden hatte, die Erinnerungen nicht zu löschen, musste ich mit einer ganzen Woche meines Lebens leben, um sie dann gleich noch einmal wieder zu erleben. Wenn ich vorher Alternativen ausgelotet hatte, hatte es sich immer nur um ein paar Tage, manchmal bloß ein paar Stunden gehandelt.
Ich zuckte mit den Schultern. »Einen Monat vielleicht. Sechs Wochen?«
»Wie lange dauert das?«
»Fünf Minuten. Keine Ahnung.« Wenn ich mich auf die Kräfte konzentrierte, verlief der Übergang fast nahtlos. Wie ein Bach, der in einen Fluss übergeht, tauchten ganz unmittelbar »Erinnerungen« an beide Alternativen auf, die sich mir boten. Wenn es vorbei war, hatte ich das Gefühl, als hätte ich beide erlebt. Deswegen setzte ich meine Gabe auch eher selten ein. Das Ganze fühlte sich so real an, dass es schwer für mich war, das »Was wäre gewesen?« vom »Was wäre,
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