Verirrte Herzen
Bewerbungsschreiben und den Lebenslauf. Sie hatte es sich mit einer Tasse Tee am Schreibtisch gemütlich gemacht und den ganzen Morgen an jedem einzelnen Satz minutenlang gefeilt, bis sie ihr Werk endlich für perfekt hielt.
In den letzten Tagen war sie alle Stellenanzeigen, die sie irgendwo finden konnte, aufmerksam durchgegangen und hatte das ein oder andere passende Angebot gefunden. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass irgend jemand ihr eine Chance geben würde, obwohl sie schon einige Zeit aus ihrem Beruf heraus war und nur vormittags zur Verfügung stand.
»Oh, ich muss ja schon los.« Überrascht sah Anne auf ihre silberne Armbanduhr, ein Geschenk von Caro, und sprang aus ihrem Stuhl hoch. Lilly hatte in wenigen Minuten Schluss im Kindergarten.
Glücklicherweise gefiel es ihrer Tochter dort noch immer richtig gut. Mittlerweile hatte sie schon einige Kinder besser kennengelernt und freute sich jeden Morgen wieder auf die Gleichaltrigen und auf die Betreuerinnen.
Schnell zog sich Anne ihren dicken, schwarzen Mantel über. Der Blick aus dem Fenster auf den mit dunklen Wolken verhangenen Himmel verhieß nichts Gutes. Sie steckte die Bewerbungsunterlagen in die sorgfältig beschrifteten Umschläge, damit sie diese unterwegs in den Briefkasten werfen konnte.
Als sie vor die Haustür trat, wurden ihre Befürchtungen bestätigt. Eine eisige Kälte empfing sie, und ein stürmischer Wind blies ihr um die Ohren. Mit schnellen Schritten eilte sie los, die Hände tief in den Taschen vergraben.
Dann endlich erreichte Anne den Briefkasten und blieb stehen. Sie atmete tief durch und öffnete ein wenig unsicher die Klappe. War es wirklich das Richtige? Würde sie wirklich alles so schaffen, wie sie es sich vorstellte?
Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust. Aufgeregt warf sie die Briefe durch den Schlitz.
Nun gab es kein Zurück mehr. Sie hatte den ersten Schritt in einen neuen Lebensabschnitt gewagt.
Das schrille Klingeln ihres Handys ließ sie aufschrecken.
»Hallo, mein Schatz.« Sofort erkannte sie Caros unverwechselbare, samtene Stimme, die ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte. »Ich habe gerade Mittagspause, und du hast mir gefehlt. Alles klar bei dir?«
Annes Herz machte Freudensprünge. Es kam so selten vor, dass Caro während der Arbeit ein wenig Zeit für sie finden konnte. »Ich bin auf dem Weg zum Kindergarten. Gerade eben habe ich meine Bewerbungen abgeschickt«, erklärte sie.
»Oh, wie schön. Ich bin gespannt, wie schnell du eine Antwort bekommen wirst«, erwiderte Caro. Auch durch den Telefonhörer konnte Anne Caros ehrliche Freude spüren und ihr fröhliches Lächeln erahnen.
Sie verabredeten, dass Anne am Abend etwas für alle drei kochen würde, und sie es sich dann ganz gemütlich machen wollten, wenn Lilly erst einmal im Bett lag. Vielleicht könnten sie gemeinsam ein heißes Bad nehmen. Dazu waren sie lange nicht mehr gekommen.
Mittlerweile war Anne am Kindergarten angekommen. Sie reihte sich vor der Tür in die Menge der wartenden Mütter und Väter ein und musste sich einige Augenblicke gedulden, bis sie Lilly in Empfang nehmen konnte.
Dann kam ihre Tochter mit ausgestreckten Armen auf sie zugerannt. »Mama, guck mal, was ich heute gemalt habe!« Sie zeigte ihr ganz stolz ein Bild, auf dem Anne nicht wirklich etwas erkennen konnte.
»Das hast du aber toll gemacht.« Sie nahm Lilly auf den Arm und gab ihr einen Kuss.
Eine andere Mutter zwinkerte ihr zu. Bestimmt hatte sie auch schon auf ähnliche Weise viele Kunstwerke lobend begutachtet.
»Was hältst du davon, wenn wir jetzt ein Brötchen essen und nachher zusammen etwas Leckeres für Caro und uns kochen?« Anne wusste, wie gern ihre Tochter im Haushalt half. Auch wenn sie eigentlich keine große Hilfe war, so war sie zumindest beschäftigt.
Wie erwartete strahlte Lilly sie an und nickte begeistert.
»Dann müssen wir jetzt nur noch einkaufen, damit wir auch alles haben, was wir brauchen.« Anne nahm ihre Tochter an die Hand, um mit ihr zum nächstgelegenen Supermarkt zu gehen.
Nach dem Einkauf kamen sie durchgefroren zu Hause an.
Ein Jahr war es nun her, dass Anne mit Lilly bei Caro eingezogen war. Caro hatte das Haus vor einigen Jahren von ihren Eltern geerbt. Für sie allein war es viel zu groß, und deshalb hatte sie Anne schon lange das Angebot gemacht, zu ihr zu ziehen. Aber Anne hatte zunächst nicht gewollt. Sie war, nachdem sie Peter verlassen hatte, froh gewesen, eine eigene, kleine Wohnung gefunden zu haben. Die
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